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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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der slawischen Raja Bosniens und Bulgariens, welche beide Länder gegenwärtig
auf dem Punkte stehen, bei günstiger Gelegenheit zu thun, was die Serben und
Griechen gethan. Die Frage ist nur, ob sich diese günstige Gelegenheit bald,
und unter welchen äußern Umständen sie sich ergeben werde. Darüber möge
man sich aber ja nicht täuschen: der Gedanke an eine Selbstbefreiung vom Tür¬
kischen Joche ist nun einmal da, er lebt im Volke und wird realisirt werden,
wenn auch ganz Westeuropa für das Türkeuthum und gegen die Slawen das
Schwert ergreift.

Die Türkei befindet sich in einer.täglich bedenklichereil Lage, und es gibt
kein politisches System, durch welches sie sich auf die Dauer zu erhalten ver¬
mochte. Das Türkeuthum ist in ein schwer zu lösendes Dilemma gekommen; es
hat nur zwischen Stabilität und Reform zu wählen, und man vermag kaum zu
entscheiden, welche Alternative die gefährlichere ist. Bleibt es beim Alten stehen,
oder will es zu den Mahomed'schen Zeiten zurückkehren, entschieden reagiren, so
ist es keinen Augenblick vor einer allgemeinen Empörung des reifenden oder bereits
gereiften christlichen, besonders des slawischen Elementes gesichert. Ueberdies wäre
es in diesem Falle genöthigt, die alte Bahn der Eroberung zu betreten, eine
durchaus kriegerische Macht wieder zu werden; aber wie kann es dies? Die 7
oder 8 Millionen Osmanlis sind wahrhaftig nicht im Stande, das christliche
Element zu bewältigen und.folgerecht einen Kampf gegen Europa zu führen.
Bleibt aber, die Türkei auf dem betretenen Wege der Reform, so muß sie den
geringen Rest, der ihr vou ihrem Lebensprincipe geblieben ist, den Islam,
opfern, und die Basis des indifferenten Rechtsstaates anstreben, und wir sehen
an dem ersten Schritte, deu sie in dieser Richtung that, an dem gloriosen Hatti-
scherif von Gülhane, daß diese Richtung dem eigensten Wesen des Türkenthums
widerstrebt. Wir erwähnten dessen in unserm ersten Artikel, als wir von Bosnien
sprachen; es ist ein vollgiltiges Zeugniß für die Unmöglichkeit einer Versöhnung
des Muhamedauischen Staatsprincips mit dem Europäischen. Doch ist nicht zu
läugnen, daß die Reform, trotz aller Antipathien des OSmanenthums und des
Muhamedanismus dagegen, dennoch die Türken eine Zeit lang zu erhalte" ver¬
mag , vorausgesetzt, daß die -diesfälligen Bestrebungen mit Muth und Energie in
allen ihre" Consequenzen durchgeführt werden.

Denn die Slawen, der zahlreichste und kräftigste Stamm in der Europäischen
Türkei, siud jetzt noch nicht in der Lage, vereinigt und einig ihre Befreiung
zu betreiben; was sie thun können und auch wirklich thun, ist, daß sie den Ge¬
danken der Befreiung, den sie alle gefaßt, verbreiten und befestigen, das natio¬
nale Selbstbewußtsein wecken und nähren und sich auf den Augenblick vorbereiten,
wo sie zu handeln genöthigt sein werden. Deshalb betrachten sie die Gegenwart
als eine Lehr- und Prüfungszeit, deshalb ertragen sie die Bedrückungen, deshalb
warten sie zu; deshalb aber klagen sie auch die serbische Regierung um, welche


der slawischen Raja Bosniens und Bulgariens, welche beide Länder gegenwärtig
auf dem Punkte stehen, bei günstiger Gelegenheit zu thun, was die Serben und
Griechen gethan. Die Frage ist nur, ob sich diese günstige Gelegenheit bald,
und unter welchen äußern Umständen sie sich ergeben werde. Darüber möge
man sich aber ja nicht täuschen: der Gedanke an eine Selbstbefreiung vom Tür¬
kischen Joche ist nun einmal da, er lebt im Volke und wird realisirt werden,
wenn auch ganz Westeuropa für das Türkeuthum und gegen die Slawen das
Schwert ergreift.

Die Türkei befindet sich in einer.täglich bedenklichereil Lage, und es gibt
kein politisches System, durch welches sie sich auf die Dauer zu erhalten ver¬
mochte. Das Türkeuthum ist in ein schwer zu lösendes Dilemma gekommen; es
hat nur zwischen Stabilität und Reform zu wählen, und man vermag kaum zu
entscheiden, welche Alternative die gefährlichere ist. Bleibt es beim Alten stehen,
oder will es zu den Mahomed'schen Zeiten zurückkehren, entschieden reagiren, so
ist es keinen Augenblick vor einer allgemeinen Empörung des reifenden oder bereits
gereiften christlichen, besonders des slawischen Elementes gesichert. Ueberdies wäre
es in diesem Falle genöthigt, die alte Bahn der Eroberung zu betreten, eine
durchaus kriegerische Macht wieder zu werden; aber wie kann es dies? Die 7
oder 8 Millionen Osmanlis sind wahrhaftig nicht im Stande, das christliche
Element zu bewältigen und.folgerecht einen Kampf gegen Europa zu führen.
Bleibt aber, die Türkei auf dem betretenen Wege der Reform, so muß sie den
geringen Rest, der ihr vou ihrem Lebensprincipe geblieben ist, den Islam,
opfern, und die Basis des indifferenten Rechtsstaates anstreben, und wir sehen
an dem ersten Schritte, deu sie in dieser Richtung that, an dem gloriosen Hatti-
scherif von Gülhane, daß diese Richtung dem eigensten Wesen des Türkenthums
widerstrebt. Wir erwähnten dessen in unserm ersten Artikel, als wir von Bosnien
sprachen; es ist ein vollgiltiges Zeugniß für die Unmöglichkeit einer Versöhnung
des Muhamedauischen Staatsprincips mit dem Europäischen. Doch ist nicht zu
läugnen, daß die Reform, trotz aller Antipathien des OSmanenthums und des
Muhamedanismus dagegen, dennoch die Türken eine Zeit lang zu erhalte» ver¬
mag , vorausgesetzt, daß die -diesfälligen Bestrebungen mit Muth und Energie in
allen ihre» Consequenzen durchgeführt werden.

Denn die Slawen, der zahlreichste und kräftigste Stamm in der Europäischen
Türkei, siud jetzt noch nicht in der Lage, vereinigt und einig ihre Befreiung
zu betreiben; was sie thun können und auch wirklich thun, ist, daß sie den Ge¬
danken der Befreiung, den sie alle gefaßt, verbreiten und befestigen, das natio¬
nale Selbstbewußtsein wecken und nähren und sich auf den Augenblick vorbereiten,
wo sie zu handeln genöthigt sein werden. Deshalb betrachten sie die Gegenwart
als eine Lehr- und Prüfungszeit, deshalb ertragen sie die Bedrückungen, deshalb
warten sie zu; deshalb aber klagen sie auch die serbische Regierung um, welche


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[0267] der slawischen Raja Bosniens und Bulgariens, welche beide Länder gegenwärtig auf dem Punkte stehen, bei günstiger Gelegenheit zu thun, was die Serben und Griechen gethan. Die Frage ist nur, ob sich diese günstige Gelegenheit bald, und unter welchen äußern Umständen sie sich ergeben werde. Darüber möge man sich aber ja nicht täuschen: der Gedanke an eine Selbstbefreiung vom Tür¬ kischen Joche ist nun einmal da, er lebt im Volke und wird realisirt werden, wenn auch ganz Westeuropa für das Türkeuthum und gegen die Slawen das Schwert ergreift. Die Türkei befindet sich in einer.täglich bedenklichereil Lage, und es gibt kein politisches System, durch welches sie sich auf die Dauer zu erhalten ver¬ mochte. Das Türkeuthum ist in ein schwer zu lösendes Dilemma gekommen; es hat nur zwischen Stabilität und Reform zu wählen, und man vermag kaum zu entscheiden, welche Alternative die gefährlichere ist. Bleibt es beim Alten stehen, oder will es zu den Mahomed'schen Zeiten zurückkehren, entschieden reagiren, so ist es keinen Augenblick vor einer allgemeinen Empörung des reifenden oder bereits gereiften christlichen, besonders des slawischen Elementes gesichert. Ueberdies wäre es in diesem Falle genöthigt, die alte Bahn der Eroberung zu betreten, eine durchaus kriegerische Macht wieder zu werden; aber wie kann es dies? Die 7 oder 8 Millionen Osmanlis sind wahrhaftig nicht im Stande, das christliche Element zu bewältigen und.folgerecht einen Kampf gegen Europa zu führen. Bleibt aber, die Türkei auf dem betretenen Wege der Reform, so muß sie den geringen Rest, der ihr vou ihrem Lebensprincipe geblieben ist, den Islam, opfern, und die Basis des indifferenten Rechtsstaates anstreben, und wir sehen an dem ersten Schritte, deu sie in dieser Richtung that, an dem gloriosen Hatti- scherif von Gülhane, daß diese Richtung dem eigensten Wesen des Türkenthums widerstrebt. Wir erwähnten dessen in unserm ersten Artikel, als wir von Bosnien sprachen; es ist ein vollgiltiges Zeugniß für die Unmöglichkeit einer Versöhnung des Muhamedauischen Staatsprincips mit dem Europäischen. Doch ist nicht zu läugnen, daß die Reform, trotz aller Antipathien des OSmanenthums und des Muhamedanismus dagegen, dennoch die Türken eine Zeit lang zu erhalte» ver¬ mag , vorausgesetzt, daß die -diesfälligen Bestrebungen mit Muth und Energie in allen ihre» Consequenzen durchgeführt werden. Denn die Slawen, der zahlreichste und kräftigste Stamm in der Europäischen Türkei, siud jetzt noch nicht in der Lage, vereinigt und einig ihre Befreiung zu betreiben; was sie thun können und auch wirklich thun, ist, daß sie den Ge¬ danken der Befreiung, den sie alle gefaßt, verbreiten und befestigen, das natio¬ nale Selbstbewußtsein wecken und nähren und sich auf den Augenblick vorbereiten, wo sie zu handeln genöthigt sein werden. Deshalb betrachten sie die Gegenwart als eine Lehr- und Prüfungszeit, deshalb ertragen sie die Bedrückungen, deshalb warten sie zu; deshalb aber klagen sie auch die serbische Regierung um, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/267>, abgerufen am 14.05.2024.