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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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theil Platz gemacht hätten. Zugegeben aber, daß Racine manche Verhältnisse des
Griechischen Lebens in die Sphäre der leichtfertigen Französischen Gesellschaft ge¬
rückt habe, daß die von ihm beliebte VersentimentalisirnUg der Charaktere keines¬
wegs ein Vorzug zu nennen sei, so muß ich dennoch behaupten, daß die Phädra
des Racine unserm heutigen Denken und Empfinden in ungleich höherem Grade
entspricht als der Hippolyt des Euripides.

Bei dem Griechischen Tragiker ist Hippolyt Mittelpunkt des Drama's. Er
hat den Zorn der Göttin Kypris aus sich geladen, weil er ihren Dienst verschmäht
und nur der Artemis seine Huldigungen darbringt, und dieser Götterzorn ist Ur¬
heber der dramatischen Handlung. Kypris erscheint und theilt uns mit, sie habe
die Bestrafung deö Hippolyt beschlossen, und deshalb seiner Stiefmutter Phädra
die Leidenschaft der Liebe zu ihm eingeflößt, um ihn durch diese zU verderben.
Die furchtbare Seelenqual der Phädra ist also hier Nur Mittel zu einem außer¬
halb derselben liegenden Zwecke. Für die religiöse Anschauung des Griechen lag
eine sittliche Rechtfertigung der unseligen Leidenschaft in der Auffassung derselben
als einer von den Göttern gesandten Strafe. In diesem Sinne beugt sich Phädra
dem sie überwältigenden Naturdrange, und will in solcher Unterwürfigkeit sich durch
den Tod dem Zorn der Götter opfern. Sie gesteht ihr Gefühl dem Hippolyt
nicht und bleibt in so fern moralisch fester als die Phädra des Racine, aber sie
wird hierdurch ein völlig passives Opfer einer außer ihr waltenden Macht, sie
handelt nicht als dramatischer Charakter, ihr Tod ist nur die traurige Katastrophe
eines pathologischen Zustandes. Die Sittlichkeit, in weicher Euripides den Ra¬
cine übertrifft, ist keine menschlich-selbstständige, sondern eine mystisch-religiöse.

Als die Amme den Hippolyt aufgefordert hat, der Gattin seines Vaters in
Liebe zu nahen, als dieser seine Entrüstung darüber in lodernden Worten ver¬
kündet, geht Phädra, sich zu tödten und so die Götter zu versöhnen. Ihre erste
Handlung ist die Vernichtung ihres Lebens , zählt einen einzigen Moment und ist
darum Wie dramatische. In wenigen Wecken der Griechischen Tragiker spricht
sich 'der lyrische Ursprung des alten Drama's entschiedener aus, als in dieser Tra¬
gödie des Euripides , welche ans einem voraus verkündeten Gvtterwillen die Ge-
fühlsleideu der Menschen gleich erläuternden Beispielen einer didaktischen Tendenz
hervorgehen läßt. Furcht vor der strafenden Gottheit, Mitleid mit deu
schwachen Menschen zu erregen, ist der Inhalt dieser Tendenz, aber anch das
Mitleid erhält jene mystisch-religiöse Färbung durch die Unselbständigkeit und
Abhängigkeit der Menschen in ihrem Verhältniß zum göttlichen Gebot.

Was Racine mit seiner Umwandlung des Hippolyt in die Phädra erstrebte,
ist unzweifelhaft eine Berufe uschlichuug der Tragik. Auch bei ihm will Phädra
ihre Leidenschaft verschweigen, Und, ihrer Schuld bewußt , sich dem Tode weihen.
Es kann uUs hier, wenn wir deu Verlauf des Stückes überblicken und Phädra's
Liebesschwärnierei, ihr Geständniß in Betrachtung ziehen, der Zweifel über-


theil Platz gemacht hätten. Zugegeben aber, daß Racine manche Verhältnisse des
Griechischen Lebens in die Sphäre der leichtfertigen Französischen Gesellschaft ge¬
rückt habe, daß die von ihm beliebte VersentimentalisirnUg der Charaktere keines¬
wegs ein Vorzug zu nennen sei, so muß ich dennoch behaupten, daß die Phädra
des Racine unserm heutigen Denken und Empfinden in ungleich höherem Grade
entspricht als der Hippolyt des Euripides.

Bei dem Griechischen Tragiker ist Hippolyt Mittelpunkt des Drama's. Er
hat den Zorn der Göttin Kypris aus sich geladen, weil er ihren Dienst verschmäht
und nur der Artemis seine Huldigungen darbringt, und dieser Götterzorn ist Ur¬
heber der dramatischen Handlung. Kypris erscheint und theilt uns mit, sie habe
die Bestrafung deö Hippolyt beschlossen, und deshalb seiner Stiefmutter Phädra
die Leidenschaft der Liebe zu ihm eingeflößt, um ihn durch diese zU verderben.
Die furchtbare Seelenqual der Phädra ist also hier Nur Mittel zu einem außer¬
halb derselben liegenden Zwecke. Für die religiöse Anschauung des Griechen lag
eine sittliche Rechtfertigung der unseligen Leidenschaft in der Auffassung derselben
als einer von den Göttern gesandten Strafe. In diesem Sinne beugt sich Phädra
dem sie überwältigenden Naturdrange, und will in solcher Unterwürfigkeit sich durch
den Tod dem Zorn der Götter opfern. Sie gesteht ihr Gefühl dem Hippolyt
nicht und bleibt in so fern moralisch fester als die Phädra des Racine, aber sie
wird hierdurch ein völlig passives Opfer einer außer ihr waltenden Macht, sie
handelt nicht als dramatischer Charakter, ihr Tod ist nur die traurige Katastrophe
eines pathologischen Zustandes. Die Sittlichkeit, in weicher Euripides den Ra¬
cine übertrifft, ist keine menschlich-selbstständige, sondern eine mystisch-religiöse.

Als die Amme den Hippolyt aufgefordert hat, der Gattin seines Vaters in
Liebe zu nahen, als dieser seine Entrüstung darüber in lodernden Worten ver¬
kündet, geht Phädra, sich zu tödten und so die Götter zu versöhnen. Ihre erste
Handlung ist die Vernichtung ihres Lebens , zählt einen einzigen Moment und ist
darum Wie dramatische. In wenigen Wecken der Griechischen Tragiker spricht
sich 'der lyrische Ursprung des alten Drama's entschiedener aus, als in dieser Tra¬
gödie des Euripides , welche ans einem voraus verkündeten Gvtterwillen die Ge-
fühlsleideu der Menschen gleich erläuternden Beispielen einer didaktischen Tendenz
hervorgehen läßt. Furcht vor der strafenden Gottheit, Mitleid mit deu
schwachen Menschen zu erregen, ist der Inhalt dieser Tendenz, aber anch das
Mitleid erhält jene mystisch-religiöse Färbung durch die Unselbständigkeit und
Abhängigkeit der Menschen in ihrem Verhältniß zum göttlichen Gebot.

Was Racine mit seiner Umwandlung des Hippolyt in die Phädra erstrebte,
ist unzweifelhaft eine Berufe uschlichuug der Tragik. Auch bei ihm will Phädra
ihre Leidenschaft verschweigen, Und, ihrer Schuld bewußt , sich dem Tode weihen.
Es kann uUs hier, wenn wir deu Verlauf des Stückes überblicken und Phädra's
Liebesschwärnierei, ihr Geständniß in Betrachtung ziehen, der Zweifel über-


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[0276] theil Platz gemacht hätten. Zugegeben aber, daß Racine manche Verhältnisse des Griechischen Lebens in die Sphäre der leichtfertigen Französischen Gesellschaft ge¬ rückt habe, daß die von ihm beliebte VersentimentalisirnUg der Charaktere keines¬ wegs ein Vorzug zu nennen sei, so muß ich dennoch behaupten, daß die Phädra des Racine unserm heutigen Denken und Empfinden in ungleich höherem Grade entspricht als der Hippolyt des Euripides. Bei dem Griechischen Tragiker ist Hippolyt Mittelpunkt des Drama's. Er hat den Zorn der Göttin Kypris aus sich geladen, weil er ihren Dienst verschmäht und nur der Artemis seine Huldigungen darbringt, und dieser Götterzorn ist Ur¬ heber der dramatischen Handlung. Kypris erscheint und theilt uns mit, sie habe die Bestrafung deö Hippolyt beschlossen, und deshalb seiner Stiefmutter Phädra die Leidenschaft der Liebe zu ihm eingeflößt, um ihn durch diese zU verderben. Die furchtbare Seelenqual der Phädra ist also hier Nur Mittel zu einem außer¬ halb derselben liegenden Zwecke. Für die religiöse Anschauung des Griechen lag eine sittliche Rechtfertigung der unseligen Leidenschaft in der Auffassung derselben als einer von den Göttern gesandten Strafe. In diesem Sinne beugt sich Phädra dem sie überwältigenden Naturdrange, und will in solcher Unterwürfigkeit sich durch den Tod dem Zorn der Götter opfern. Sie gesteht ihr Gefühl dem Hippolyt nicht und bleibt in so fern moralisch fester als die Phädra des Racine, aber sie wird hierdurch ein völlig passives Opfer einer außer ihr waltenden Macht, sie handelt nicht als dramatischer Charakter, ihr Tod ist nur die traurige Katastrophe eines pathologischen Zustandes. Die Sittlichkeit, in weicher Euripides den Ra¬ cine übertrifft, ist keine menschlich-selbstständige, sondern eine mystisch-religiöse. Als die Amme den Hippolyt aufgefordert hat, der Gattin seines Vaters in Liebe zu nahen, als dieser seine Entrüstung darüber in lodernden Worten ver¬ kündet, geht Phädra, sich zu tödten und so die Götter zu versöhnen. Ihre erste Handlung ist die Vernichtung ihres Lebens , zählt einen einzigen Moment und ist darum Wie dramatische. In wenigen Wecken der Griechischen Tragiker spricht sich 'der lyrische Ursprung des alten Drama's entschiedener aus, als in dieser Tra¬ gödie des Euripides , welche ans einem voraus verkündeten Gvtterwillen die Ge- fühlsleideu der Menschen gleich erläuternden Beispielen einer didaktischen Tendenz hervorgehen läßt. Furcht vor der strafenden Gottheit, Mitleid mit deu schwachen Menschen zu erregen, ist der Inhalt dieser Tendenz, aber anch das Mitleid erhält jene mystisch-religiöse Färbung durch die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Menschen in ihrem Verhältniß zum göttlichen Gebot. Was Racine mit seiner Umwandlung des Hippolyt in die Phädra erstrebte, ist unzweifelhaft eine Berufe uschlichuug der Tragik. Auch bei ihm will Phädra ihre Leidenschaft verschweigen, Und, ihrer Schuld bewußt , sich dem Tode weihen. Es kann uUs hier, wenn wir deu Verlauf des Stückes überblicken und Phädra's Liebesschwärnierei, ihr Geständniß in Betrachtung ziehen, der Zweifel über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/276>, abgerufen am 14.05.2024.