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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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keuschen Artemis, die seinem Charakter den Stempel rauher Einseitigkeit ausge¬
drückt. Wenn Theseus deu Poseidon auffordert, das Gericht an seinem Sohne
zu vollziehe", so handelt er bei dem Griechischen Tragiker ebenso folgerichtig unter
dein Gebot der Göttin, welche ihn mit Verblendung schlug. Racine läßt diese
Bitte so wie den Eingriff des Poseidon in Hippolyt's Leben bestehen, nud da wir
bei ihm, der alle Motive in das Menschliche übertrug, nach deu Ursachen forschen,
so finden wir nur eine unverzeihliche Leichtgläubigkeit "ud Voreiligkeit des Theseus
und ein allzu vorsichtiges, allzu zartfühlendes Schweigen Hippolyt's. Darin liegt
wahrlich kein tragischer Conflict von so gewaltiger Spannung, daß nnr der Tod
ihn lösen könnte. Ich theile die ästhetische Anstedt Derjenigen nicht, welche zur
Motivirung eines tragischen Unterganges das Vorhandensein einer zu sühnenden,
sogenannten "tragischen Schuld" für erforderlich erachten. Diese Ansicht
gehört nach meiner Ueberzeugung nicht in die Aesthetik, sondern in die Juris¬
prudenz. Aber aus deu einfachsten Gesetzen der künstlerischen Composition ergibt
sich für die Tragödie der Grundsatz, daß ein tragischer Untergang durch die dra¬
matische Bewegung mit Nothwendigkeit bedingt sei, möge diese Nothwendig¬
keit übrigens in einem sittlichen Bedürfniß der untergehenden Person, oder in dem
auf andere Weise unlösbaren Zwange der Verhältnisse ihren Grund haben. Der
besondere Begriff des Drama's, das die menschliche Handlung zum Gegenstände
seiner Darstellung hat, und unsre heutige Auffassung, welche den Menschen als
willenssrei Handelnde Persönlichkeit betrachtet, lassen allerdings die tragische Noth¬
wendigkeit im neueren Drama grundsätzlich aus freiem Handeln der tragischen
Person hervorgehe", aber auch in diesem Falle bleibt die Forderung eiuer "tra¬
gische" Schuld" immerhin ein mindestens schiefer Ausdruck, der nicht selten dazu
verleitete, das ästhetische Gesetz mit dem Gebot einer sentimentalen Moral zu
verwechseln. Zurechnungsfähig muß der tragische Charakter sein, schuldig aber
brauchen wir ihn nicht; als eine Nothwendigkeit muß die tragische Lösung eines
dramatischen Conflictes sich ergeben, die Sühne einer Schuld braucht nicht in ihr
enthalte" zu sein. Vor dein Tribunal einer rigoroser Moral könnte Hippolyt's
romantische Neigung zu Aricia, der Feindin seines Vaters, vielleicht als eine
Schuld betrachtet werdeu, welche der Sühne bedürfe. Aber die Nothwendigkeit
seines Todes läßt sich nirgends heransdeduciren, und darin besteht der Grund¬
mängel dieser Tragik, während wir an der Tragödie des Euripides menschliche
Freiheit und seelische Entwickelung vermissen, welche Racine seinem Haupt¬
charakter zu verleihen wußte.

Im Hippolyt werden die göttlichen Mächte, welche in der Antigone, der
Medea und dem Oedipus nur unsichtbar einwirken, zu sinnlich wahrnehmbaren
Gestalten. Das Stück beginnt mit der Erscheinung der Kypris, welche in Wolken
gehüllt von: Olymp heruiederfährt, und wird dnrch Artemis, die ans gleiche Weise
erscheint, mit der Erklärung, daß Hippolyt unschuldig sei, geschlossen. Dieses


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keuschen Artemis, die seinem Charakter den Stempel rauher Einseitigkeit ausge¬
drückt. Wenn Theseus deu Poseidon auffordert, das Gericht an seinem Sohne
zu vollziehe», so handelt er bei dem Griechischen Tragiker ebenso folgerichtig unter
dein Gebot der Göttin, welche ihn mit Verblendung schlug. Racine läßt diese
Bitte so wie den Eingriff des Poseidon in Hippolyt's Leben bestehen, nud da wir
bei ihm, der alle Motive in das Menschliche übertrug, nach deu Ursachen forschen,
so finden wir nur eine unverzeihliche Leichtgläubigkeit »ud Voreiligkeit des Theseus
und ein allzu vorsichtiges, allzu zartfühlendes Schweigen Hippolyt's. Darin liegt
wahrlich kein tragischer Conflict von so gewaltiger Spannung, daß nnr der Tod
ihn lösen könnte. Ich theile die ästhetische Anstedt Derjenigen nicht, welche zur
Motivirung eines tragischen Unterganges das Vorhandensein einer zu sühnenden,
sogenannten „tragischen Schuld" für erforderlich erachten. Diese Ansicht
gehört nach meiner Ueberzeugung nicht in die Aesthetik, sondern in die Juris¬
prudenz. Aber aus deu einfachsten Gesetzen der künstlerischen Composition ergibt
sich für die Tragödie der Grundsatz, daß ein tragischer Untergang durch die dra¬
matische Bewegung mit Nothwendigkeit bedingt sei, möge diese Nothwendig¬
keit übrigens in einem sittlichen Bedürfniß der untergehenden Person, oder in dem
auf andere Weise unlösbaren Zwange der Verhältnisse ihren Grund haben. Der
besondere Begriff des Drama's, das die menschliche Handlung zum Gegenstände
seiner Darstellung hat, und unsre heutige Auffassung, welche den Menschen als
willenssrei Handelnde Persönlichkeit betrachtet, lassen allerdings die tragische Noth¬
wendigkeit im neueren Drama grundsätzlich aus freiem Handeln der tragischen
Person hervorgehe», aber auch in diesem Falle bleibt die Forderung eiuer „tra¬
gische» Schuld" immerhin ein mindestens schiefer Ausdruck, der nicht selten dazu
verleitete, das ästhetische Gesetz mit dem Gebot einer sentimentalen Moral zu
verwechseln. Zurechnungsfähig muß der tragische Charakter sein, schuldig aber
brauchen wir ihn nicht; als eine Nothwendigkeit muß die tragische Lösung eines
dramatischen Conflictes sich ergeben, die Sühne einer Schuld braucht nicht in ihr
enthalte» zu sein. Vor dein Tribunal einer rigoroser Moral könnte Hippolyt's
romantische Neigung zu Aricia, der Feindin seines Vaters, vielleicht als eine
Schuld betrachtet werdeu, welche der Sühne bedürfe. Aber die Nothwendigkeit
seines Todes läßt sich nirgends heransdeduciren, und darin besteht der Grund¬
mängel dieser Tragik, während wir an der Tragödie des Euripides menschliche
Freiheit und seelische Entwickelung vermissen, welche Racine seinem Haupt¬
charakter zu verleihen wußte.

Im Hippolyt werden die göttlichen Mächte, welche in der Antigone, der
Medea und dem Oedipus nur unsichtbar einwirken, zu sinnlich wahrnehmbaren
Gestalten. Das Stück beginnt mit der Erscheinung der Kypris, welche in Wolken
gehüllt von: Olymp heruiederfährt, und wird dnrch Artemis, die ans gleiche Weise
erscheint, mit der Erklärung, daß Hippolyt unschuldig sei, geschlossen. Dieses


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[0279] keuschen Artemis, die seinem Charakter den Stempel rauher Einseitigkeit ausge¬ drückt. Wenn Theseus deu Poseidon auffordert, das Gericht an seinem Sohne zu vollziehe», so handelt er bei dem Griechischen Tragiker ebenso folgerichtig unter dein Gebot der Göttin, welche ihn mit Verblendung schlug. Racine läßt diese Bitte so wie den Eingriff des Poseidon in Hippolyt's Leben bestehen, nud da wir bei ihm, der alle Motive in das Menschliche übertrug, nach deu Ursachen forschen, so finden wir nur eine unverzeihliche Leichtgläubigkeit »ud Voreiligkeit des Theseus und ein allzu vorsichtiges, allzu zartfühlendes Schweigen Hippolyt's. Darin liegt wahrlich kein tragischer Conflict von so gewaltiger Spannung, daß nnr der Tod ihn lösen könnte. Ich theile die ästhetische Anstedt Derjenigen nicht, welche zur Motivirung eines tragischen Unterganges das Vorhandensein einer zu sühnenden, sogenannten „tragischen Schuld" für erforderlich erachten. Diese Ansicht gehört nach meiner Ueberzeugung nicht in die Aesthetik, sondern in die Juris¬ prudenz. Aber aus deu einfachsten Gesetzen der künstlerischen Composition ergibt sich für die Tragödie der Grundsatz, daß ein tragischer Untergang durch die dra¬ matische Bewegung mit Nothwendigkeit bedingt sei, möge diese Nothwendig¬ keit übrigens in einem sittlichen Bedürfniß der untergehenden Person, oder in dem auf andere Weise unlösbaren Zwange der Verhältnisse ihren Grund haben. Der besondere Begriff des Drama's, das die menschliche Handlung zum Gegenstände seiner Darstellung hat, und unsre heutige Auffassung, welche den Menschen als willenssrei Handelnde Persönlichkeit betrachtet, lassen allerdings die tragische Noth¬ wendigkeit im neueren Drama grundsätzlich aus freiem Handeln der tragischen Person hervorgehe», aber auch in diesem Falle bleibt die Forderung eiuer „tra¬ gische» Schuld" immerhin ein mindestens schiefer Ausdruck, der nicht selten dazu verleitete, das ästhetische Gesetz mit dem Gebot einer sentimentalen Moral zu verwechseln. Zurechnungsfähig muß der tragische Charakter sein, schuldig aber brauchen wir ihn nicht; als eine Nothwendigkeit muß die tragische Lösung eines dramatischen Conflictes sich ergeben, die Sühne einer Schuld braucht nicht in ihr enthalte» zu sein. Vor dein Tribunal einer rigoroser Moral könnte Hippolyt's romantische Neigung zu Aricia, der Feindin seines Vaters, vielleicht als eine Schuld betrachtet werdeu, welche der Sühne bedürfe. Aber die Nothwendigkeit seines Todes läßt sich nirgends heransdeduciren, und darin besteht der Grund¬ mängel dieser Tragik, während wir an der Tragödie des Euripides menschliche Freiheit und seelische Entwickelung vermissen, welche Racine seinem Haupt¬ charakter zu verleihen wußte. Im Hippolyt werden die göttlichen Mächte, welche in der Antigone, der Medea und dem Oedipus nur unsichtbar einwirken, zu sinnlich wahrnehmbaren Gestalten. Das Stück beginnt mit der Erscheinung der Kypris, welche in Wolken gehüllt von: Olymp heruiederfährt, und wird dnrch Artemis, die ans gleiche Weise erscheint, mit der Erklärung, daß Hippolyt unschuldig sei, geschlossen. Dieses 34*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/279>, abgerufen am 14.05.2024.