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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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stenthnm, eine erkünstelte nervöse Abspannung wurde die Modekrankheit; selbst
über Goethe's helle Lebensweisheit breitete sich das trübe Grau der allgemeinen
Atmosphäre. Schwächere Charaktere gestalteten das Ahnen und Sehnen, das
Zweifeln und Bangen mit großer Naivetät zu salbungsvollen Bildern, an die sie
glaubten; stärkeren fraß der Zweifel ans Herz. Im Verhältniß zu den Deutschen
Dichtern ist Lord Byron noch glücklich zu nennen: der Brite inmitten eines
großen bewegten und verständigen Lebens warf seine Krankheit lediglich ins Ge¬
müth, er schilderte mir die subjective Verkehrtheit, mit dem vollen Bewußtsein,
daß sie verkehrt sei, da ihm die sittliche Welt in festen Angeln richte. Der
Deutsche Dichter dagegen hat bei dem tiefsten Gefühl für daS lebendige Recht
und bei dem schärfsten Verstand Augenblicke, wo ihm nicht allein die Welt, sondern
sein eigener Glaube verkehrt und nichtig vorkommt. Der latente Wahnsinn tritt
dann hervor und wirkt um so peinlicher, wenn er mit dem Anschein kalter Ob-
jectivität verknüpft ist, wenn wir ihn nicht als Ausbruch einer zufälligen vor¬
übergehenden Erregtheit begreifen können. Wir erschrecken über die Wildheit
einer lange verhaltenen Leidenschaft, die plötzlich und unvermittelt hervorbricht,
über die hastigen Sprünge einer Ueberzeugung, die nur durch einen gewaltigen
Anlauf über ihre eigenen Zweifel hinwegkommen kann. Weil wir niemals auf den
Ausgang vorbereitet siud, werden wir nicht nnr überrascht, sondern auch verwirrt;
wir verstehen die Charaktere, die uns vorher in den einzelnen Zügen mit einer
wunderbaren plastischen Kraft zur Anschauung gebracht waren, in ihrer wesent¬
lichsten Entwickelung nicht mehr. So verkümmert die edelste Anlage und läuft
in unklares, phantastisches Wesen aus, wie wir es bei Kleist fast in allen seinen
Dichtungen wiederfinden.

Es war in jener Zeit (1809), daß Fran v. Stahl ihr berühmtes Buch über
Deutschland schrieb. Wenn die geistreiche Fran in dein ganzen Deutschen Volke
jenes somnambule, vistvnaire Wesen sieht, welches sie in den Spitzen der
Deutschen Literatur, die sie allein kannte, ganz richtig entdeckt hatte, so war das
allerdings zu weit gegangen, aber bis zu einem gewissen Grade war allerdings
wenigstens in den höhern Kreisen des Lebens Alles von dieser Krankheit inficirt.
Kleist bildet durch die eigensinnige und zuweilen barocke Härte seiner Zeichnung,
durch das Verhaltene und Gekniffene seiner Sprache, dnrch die Energie seiner
Charakteristik und durch das leidenschaftliche Streben nach Wahrheit einen sehr
entschiedenen Gegensatz gegen die herrschende Romantik, die es nie zur Gestaltung,
nie zur eigentlich starken Empfindung, sondern nnr zur Phrase oder höchstens zur
Stimmung bringt, aber er hat ihr doch seinen Tribut zahlen müssen. Wen"
Fouque und die Uebrigen mit den närrischen Erfindungen des Paracelsus, des
Jakob Böhme u. s. w. aus eine ziemlich kindliche Weise spielen, so ist bei Kleist
dieses Eingreifen der irratiouelleu Welt aus dem innern Schauder zu begreifen,
der sich ohne Absicht an die homogenen Erscheinungen knüpft, die ihm zufällig"


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stenthnm, eine erkünstelte nervöse Abspannung wurde die Modekrankheit; selbst
über Goethe's helle Lebensweisheit breitete sich das trübe Grau der allgemeinen
Atmosphäre. Schwächere Charaktere gestalteten das Ahnen und Sehnen, das
Zweifeln und Bangen mit großer Naivetät zu salbungsvollen Bildern, an die sie
glaubten; stärkeren fraß der Zweifel ans Herz. Im Verhältniß zu den Deutschen
Dichtern ist Lord Byron noch glücklich zu nennen: der Brite inmitten eines
großen bewegten und verständigen Lebens warf seine Krankheit lediglich ins Ge¬
müth, er schilderte mir die subjective Verkehrtheit, mit dem vollen Bewußtsein,
daß sie verkehrt sei, da ihm die sittliche Welt in festen Angeln richte. Der
Deutsche Dichter dagegen hat bei dem tiefsten Gefühl für daS lebendige Recht
und bei dem schärfsten Verstand Augenblicke, wo ihm nicht allein die Welt, sondern
sein eigener Glaube verkehrt und nichtig vorkommt. Der latente Wahnsinn tritt
dann hervor und wirkt um so peinlicher, wenn er mit dem Anschein kalter Ob-
jectivität verknüpft ist, wenn wir ihn nicht als Ausbruch einer zufälligen vor¬
übergehenden Erregtheit begreifen können. Wir erschrecken über die Wildheit
einer lange verhaltenen Leidenschaft, die plötzlich und unvermittelt hervorbricht,
über die hastigen Sprünge einer Ueberzeugung, die nur durch einen gewaltigen
Anlauf über ihre eigenen Zweifel hinwegkommen kann. Weil wir niemals auf den
Ausgang vorbereitet siud, werden wir nicht nnr überrascht, sondern auch verwirrt;
wir verstehen die Charaktere, die uns vorher in den einzelnen Zügen mit einer
wunderbaren plastischen Kraft zur Anschauung gebracht waren, in ihrer wesent¬
lichsten Entwickelung nicht mehr. So verkümmert die edelste Anlage und läuft
in unklares, phantastisches Wesen aus, wie wir es bei Kleist fast in allen seinen
Dichtungen wiederfinden.

Es war in jener Zeit (1809), daß Fran v. Stahl ihr berühmtes Buch über
Deutschland schrieb. Wenn die geistreiche Fran in dein ganzen Deutschen Volke
jenes somnambule, vistvnaire Wesen sieht, welches sie in den Spitzen der
Deutschen Literatur, die sie allein kannte, ganz richtig entdeckt hatte, so war das
allerdings zu weit gegangen, aber bis zu einem gewissen Grade war allerdings
wenigstens in den höhern Kreisen des Lebens Alles von dieser Krankheit inficirt.
Kleist bildet durch die eigensinnige und zuweilen barocke Härte seiner Zeichnung,
durch das Verhaltene und Gekniffene seiner Sprache, dnrch die Energie seiner
Charakteristik und durch das leidenschaftliche Streben nach Wahrheit einen sehr
entschiedenen Gegensatz gegen die herrschende Romantik, die es nie zur Gestaltung,
nie zur eigentlich starken Empfindung, sondern nnr zur Phrase oder höchstens zur
Stimmung bringt, aber er hat ihr doch seinen Tribut zahlen müssen. Wen»
Fouque und die Uebrigen mit den närrischen Erfindungen des Paracelsus, des
Jakob Böhme u. s. w. aus eine ziemlich kindliche Weise spielen, so ist bei Kleist
dieses Eingreifen der irratiouelleu Welt aus dem innern Schauder zu begreifen,
der sich ohne Absicht an die homogenen Erscheinungen knüpft, die ihm zufällig"


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[0335] stenthnm, eine erkünstelte nervöse Abspannung wurde die Modekrankheit; selbst über Goethe's helle Lebensweisheit breitete sich das trübe Grau der allgemeinen Atmosphäre. Schwächere Charaktere gestalteten das Ahnen und Sehnen, das Zweifeln und Bangen mit großer Naivetät zu salbungsvollen Bildern, an die sie glaubten; stärkeren fraß der Zweifel ans Herz. Im Verhältniß zu den Deutschen Dichtern ist Lord Byron noch glücklich zu nennen: der Brite inmitten eines großen bewegten und verständigen Lebens warf seine Krankheit lediglich ins Ge¬ müth, er schilderte mir die subjective Verkehrtheit, mit dem vollen Bewußtsein, daß sie verkehrt sei, da ihm die sittliche Welt in festen Angeln richte. Der Deutsche Dichter dagegen hat bei dem tiefsten Gefühl für daS lebendige Recht und bei dem schärfsten Verstand Augenblicke, wo ihm nicht allein die Welt, sondern sein eigener Glaube verkehrt und nichtig vorkommt. Der latente Wahnsinn tritt dann hervor und wirkt um so peinlicher, wenn er mit dem Anschein kalter Ob- jectivität verknüpft ist, wenn wir ihn nicht als Ausbruch einer zufälligen vor¬ übergehenden Erregtheit begreifen können. Wir erschrecken über die Wildheit einer lange verhaltenen Leidenschaft, die plötzlich und unvermittelt hervorbricht, über die hastigen Sprünge einer Ueberzeugung, die nur durch einen gewaltigen Anlauf über ihre eigenen Zweifel hinwegkommen kann. Weil wir niemals auf den Ausgang vorbereitet siud, werden wir nicht nnr überrascht, sondern auch verwirrt; wir verstehen die Charaktere, die uns vorher in den einzelnen Zügen mit einer wunderbaren plastischen Kraft zur Anschauung gebracht waren, in ihrer wesent¬ lichsten Entwickelung nicht mehr. So verkümmert die edelste Anlage und läuft in unklares, phantastisches Wesen aus, wie wir es bei Kleist fast in allen seinen Dichtungen wiederfinden. Es war in jener Zeit (1809), daß Fran v. Stahl ihr berühmtes Buch über Deutschland schrieb. Wenn die geistreiche Fran in dein ganzen Deutschen Volke jenes somnambule, vistvnaire Wesen sieht, welches sie in den Spitzen der Deutschen Literatur, die sie allein kannte, ganz richtig entdeckt hatte, so war das allerdings zu weit gegangen, aber bis zu einem gewissen Grade war allerdings wenigstens in den höhern Kreisen des Lebens Alles von dieser Krankheit inficirt. Kleist bildet durch die eigensinnige und zuweilen barocke Härte seiner Zeichnung, durch das Verhaltene und Gekniffene seiner Sprache, dnrch die Energie seiner Charakteristik und durch das leidenschaftliche Streben nach Wahrheit einen sehr entschiedenen Gegensatz gegen die herrschende Romantik, die es nie zur Gestaltung, nie zur eigentlich starken Empfindung, sondern nnr zur Phrase oder höchstens zur Stimmung bringt, aber er hat ihr doch seinen Tribut zahlen müssen. Wen» Fouque und die Uebrigen mit den närrischen Erfindungen des Paracelsus, des Jakob Böhme u. s. w. aus eine ziemlich kindliche Weise spielen, so ist bei Kleist dieses Eingreifen der irratiouelleu Welt aus dem innern Schauder zu begreifen, der sich ohne Absicht an die homogenen Erscheinungen knüpft, die ihm zufällig" 41*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/335>, abgerufen am 29.05.2024.