Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wenn wir uns über den gegenwärtigen Beruf der Philosophie ins Klare
setzen wollen, so müssen wir zweierlei unterscheiden. Bei den Griechen, deren
Leben und Denken überhaupt Totalität war, konnte man Philosophie geradezu
als identisch mit der Wissenschaft betrachten. Bei den grandiosen Erfolgen, welche
in neuerer Zeit die Theilung der Arbeit anch in der Wissenschaft hervorgebracht
hat, ist eine solche Einheit der wissenschaftlichen Methode nicht mehr möglich.
Allerdings bedarf die Neigung zur Gedankenlosigkeit, welche von dem mechani¬
schen Fortarbeiten in einer bestimmten Richtung schwer zu trennen ist, von
Zeit zu Zeit einer ernsthaften Sammlung. Die Mathematik, die Chemie, die
Historie u. f. w. muß von Zeit zu Zeit über die Kategorien nachdenken, mit
denen sie zu operiren pflegt; es muß ferner die Wissenschaft von Zeit zu Zeit
sich selbst in einem Gesammtbild anzuschauen suchen, um über der sorgfältigen
Bearbeitung des Einzelnen nicht die richtigen Dimensionen und Perspektiven zu ver¬
lieren. Beides kann man als die philosophische Thätigkeit dieser Wissenschaften
bezeichnen, die sich aber bequemen muß, innerhalb der der Wissenschaft vorgesteckten
Grenzen zu bleiben. So hat, um dnrch ein Beispiel mich deutlicher zu macheu,
die Mathematik, deren Lehrsätze Nichts weiter sind, als eine Reihe sinnlicher Er¬
fahrungen, in einen Zusammenhang gebracht, und auf die reinste sinnliche Abstrac-
tion zurückgeführt, eine Menge von Begriffen, mit denen sie operirt, ohne über
ihr eigentliches Wesen nachzudenken, z. B. Raum, Große, Unendlichkeit und der¬
gleichen. Sie wird 'sich diesem Nachdenken nicht länger entziehen können, aber
es wird nnr dann fruchtbar werden, wenn es sich nicht von der sonstigen wissen-
schaftlichen Methode ablöst, sondern innerhalb derselben stattfindet. In jeder
andern Wissenschaft ist das in noch weit höherm Grade der Fall. Die Beobachtung
und die Analyse geben nnr das Material, mit welchem man construiren soll,
nicht construiren a priori, sondern mit dem vorhandenen Material, und nach dem
in der Wissenschaft liegenden Gesetz. Eins nach dem andern von den Gebieten,
welche bisher die Philosophie ausschließlich in Anspruch nahm, wird dann der
speciellen Wissenschaft anheimfallen, z. B. die sogenannte Psychologie, so weit
dieselbe überhaupt in die Wissenschaft gehört und sich nicht in inviduelle Beobach-
tungen auflöst. Auch die Logik und Metaphysik wird sich nicht länger außerhalb
der übrigen Wissenschaften bewegen dürfen, sondern in dieselben aufgehen; sie
wird also namentlich auch in ihrer Form streben müssen, sich der gewöhnlichen
Sprache dieser Wissenschaften zu bequemen,. '

Das ist die eine Seite der Philosophie. Die andere ist nicht minder wichtig.
In der christlichen Welt ist die Philosophie im Gegensatze zu den andern Wissen¬
schaften von dem Streben ausgegangen, die ideale Welt zu suchen, während je¬
nen die reale anheimgestellt blieb. In ihrer allmäligen Entwickelung ist sie end¬
lich dahin gekommen, zu begreifen, daß die ideale Welt nichts Anderes ist, als
die reale. Sie hat damit ihre bisherigen Voraussetzungen und ihre bisherige


Wenn wir uns über den gegenwärtigen Beruf der Philosophie ins Klare
setzen wollen, so müssen wir zweierlei unterscheiden. Bei den Griechen, deren
Leben und Denken überhaupt Totalität war, konnte man Philosophie geradezu
als identisch mit der Wissenschaft betrachten. Bei den grandiosen Erfolgen, welche
in neuerer Zeit die Theilung der Arbeit anch in der Wissenschaft hervorgebracht
hat, ist eine solche Einheit der wissenschaftlichen Methode nicht mehr möglich.
Allerdings bedarf die Neigung zur Gedankenlosigkeit, welche von dem mechani¬
schen Fortarbeiten in einer bestimmten Richtung schwer zu trennen ist, von
Zeit zu Zeit einer ernsthaften Sammlung. Die Mathematik, die Chemie, die
Historie u. f. w. muß von Zeit zu Zeit über die Kategorien nachdenken, mit
denen sie zu operiren pflegt; es muß ferner die Wissenschaft von Zeit zu Zeit
sich selbst in einem Gesammtbild anzuschauen suchen, um über der sorgfältigen
Bearbeitung des Einzelnen nicht die richtigen Dimensionen und Perspektiven zu ver¬
lieren. Beides kann man als die philosophische Thätigkeit dieser Wissenschaften
bezeichnen, die sich aber bequemen muß, innerhalb der der Wissenschaft vorgesteckten
Grenzen zu bleiben. So hat, um dnrch ein Beispiel mich deutlicher zu macheu,
die Mathematik, deren Lehrsätze Nichts weiter sind, als eine Reihe sinnlicher Er¬
fahrungen, in einen Zusammenhang gebracht, und auf die reinste sinnliche Abstrac-
tion zurückgeführt, eine Menge von Begriffen, mit denen sie operirt, ohne über
ihr eigentliches Wesen nachzudenken, z. B. Raum, Große, Unendlichkeit und der¬
gleichen. Sie wird 'sich diesem Nachdenken nicht länger entziehen können, aber
es wird nnr dann fruchtbar werden, wenn es sich nicht von der sonstigen wissen-
schaftlichen Methode ablöst, sondern innerhalb derselben stattfindet. In jeder
andern Wissenschaft ist das in noch weit höherm Grade der Fall. Die Beobachtung
und die Analyse geben nnr das Material, mit welchem man construiren soll,
nicht construiren a priori, sondern mit dem vorhandenen Material, und nach dem
in der Wissenschaft liegenden Gesetz. Eins nach dem andern von den Gebieten,
welche bisher die Philosophie ausschließlich in Anspruch nahm, wird dann der
speciellen Wissenschaft anheimfallen, z. B. die sogenannte Psychologie, so weit
dieselbe überhaupt in die Wissenschaft gehört und sich nicht in inviduelle Beobach-
tungen auflöst. Auch die Logik und Metaphysik wird sich nicht länger außerhalb
der übrigen Wissenschaften bewegen dürfen, sondern in dieselben aufgehen; sie
wird also namentlich auch in ihrer Form streben müssen, sich der gewöhnlichen
Sprache dieser Wissenschaften zu bequemen,. '

Das ist die eine Seite der Philosophie. Die andere ist nicht minder wichtig.
In der christlichen Welt ist die Philosophie im Gegensatze zu den andern Wissen¬
schaften von dem Streben ausgegangen, die ideale Welt zu suchen, während je¬
nen die reale anheimgestellt blieb. In ihrer allmäligen Entwickelung ist sie end¬
lich dahin gekommen, zu begreifen, daß die ideale Welt nichts Anderes ist, als
die reale. Sie hat damit ihre bisherigen Voraussetzungen und ihre bisherige


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91575"/>
          <p xml:id="ID_1047"> Wenn wir uns über den gegenwärtigen Beruf der Philosophie ins Klare<lb/>
setzen wollen, so müssen wir zweierlei unterscheiden. Bei den Griechen, deren<lb/>
Leben und Denken überhaupt Totalität war, konnte man Philosophie geradezu<lb/>
als identisch mit der Wissenschaft betrachten. Bei den grandiosen Erfolgen, welche<lb/>
in neuerer Zeit die Theilung der Arbeit anch in der Wissenschaft hervorgebracht<lb/>
hat, ist eine solche Einheit der wissenschaftlichen Methode nicht mehr möglich.<lb/>
Allerdings bedarf die Neigung zur Gedankenlosigkeit, welche von dem mechani¬<lb/>
schen Fortarbeiten in einer bestimmten Richtung schwer zu trennen ist, von<lb/>
Zeit zu Zeit einer ernsthaften Sammlung. Die Mathematik, die Chemie, die<lb/>
Historie u. f. w. muß von Zeit zu Zeit über die Kategorien nachdenken, mit<lb/>
denen sie zu operiren pflegt; es muß ferner die Wissenschaft von Zeit zu Zeit<lb/>
sich selbst in einem Gesammtbild anzuschauen suchen, um über der sorgfältigen<lb/>
Bearbeitung des Einzelnen nicht die richtigen Dimensionen und Perspektiven zu ver¬<lb/>
lieren. Beides kann man als die philosophische Thätigkeit dieser Wissenschaften<lb/>
bezeichnen, die sich aber bequemen muß, innerhalb der der Wissenschaft vorgesteckten<lb/>
Grenzen zu bleiben. So hat, um dnrch ein Beispiel mich deutlicher zu macheu,<lb/>
die Mathematik, deren Lehrsätze Nichts weiter sind, als eine Reihe sinnlicher Er¬<lb/>
fahrungen, in einen Zusammenhang gebracht, und auf die reinste sinnliche Abstrac-<lb/>
tion zurückgeführt, eine Menge von Begriffen, mit denen sie operirt, ohne über<lb/>
ihr eigentliches Wesen nachzudenken, z. B. Raum, Große, Unendlichkeit und der¬<lb/>
gleichen. Sie wird 'sich diesem Nachdenken nicht länger entziehen können, aber<lb/>
es wird nnr dann fruchtbar werden, wenn es sich nicht von der sonstigen wissen-<lb/>
schaftlichen Methode ablöst, sondern innerhalb derselben stattfindet. In jeder<lb/>
andern Wissenschaft ist das in noch weit höherm Grade der Fall. Die Beobachtung<lb/>
und die Analyse geben nnr das Material, mit welchem man construiren soll,<lb/>
nicht construiren a priori, sondern mit dem vorhandenen Material, und nach dem<lb/>
in der Wissenschaft liegenden Gesetz. Eins nach dem andern von den Gebieten,<lb/>
welche bisher die Philosophie ausschließlich in Anspruch nahm, wird dann der<lb/>
speciellen Wissenschaft anheimfallen, z. B. die sogenannte Psychologie, so weit<lb/>
dieselbe überhaupt in die Wissenschaft gehört und sich nicht in inviduelle Beobach-<lb/>
tungen auflöst. Auch die Logik und Metaphysik wird sich nicht länger außerhalb<lb/>
der übrigen Wissenschaften bewegen dürfen, sondern in dieselben aufgehen; sie<lb/>
wird also namentlich auch in ihrer Form streben müssen, sich der gewöhnlichen<lb/>
Sprache dieser Wissenschaften zu bequemen,. '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1048" next="#ID_1049"> Das ist die eine Seite der Philosophie. Die andere ist nicht minder wichtig.<lb/>
In der christlichen Welt ist die Philosophie im Gegensatze zu den andern Wissen¬<lb/>
schaften von dem Streben ausgegangen, die ideale Welt zu suchen, während je¬<lb/>
nen die reale anheimgestellt blieb. In ihrer allmäligen Entwickelung ist sie end¬<lb/>
lich dahin gekommen, zu begreifen, daß die ideale Welt nichts Anderes ist, als<lb/>
die reale.  Sie hat damit ihre bisherigen Voraussetzungen und ihre bisherige</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] Wenn wir uns über den gegenwärtigen Beruf der Philosophie ins Klare setzen wollen, so müssen wir zweierlei unterscheiden. Bei den Griechen, deren Leben und Denken überhaupt Totalität war, konnte man Philosophie geradezu als identisch mit der Wissenschaft betrachten. Bei den grandiosen Erfolgen, welche in neuerer Zeit die Theilung der Arbeit anch in der Wissenschaft hervorgebracht hat, ist eine solche Einheit der wissenschaftlichen Methode nicht mehr möglich. Allerdings bedarf die Neigung zur Gedankenlosigkeit, welche von dem mechani¬ schen Fortarbeiten in einer bestimmten Richtung schwer zu trennen ist, von Zeit zu Zeit einer ernsthaften Sammlung. Die Mathematik, die Chemie, die Historie u. f. w. muß von Zeit zu Zeit über die Kategorien nachdenken, mit denen sie zu operiren pflegt; es muß ferner die Wissenschaft von Zeit zu Zeit sich selbst in einem Gesammtbild anzuschauen suchen, um über der sorgfältigen Bearbeitung des Einzelnen nicht die richtigen Dimensionen und Perspektiven zu ver¬ lieren. Beides kann man als die philosophische Thätigkeit dieser Wissenschaften bezeichnen, die sich aber bequemen muß, innerhalb der der Wissenschaft vorgesteckten Grenzen zu bleiben. So hat, um dnrch ein Beispiel mich deutlicher zu macheu, die Mathematik, deren Lehrsätze Nichts weiter sind, als eine Reihe sinnlicher Er¬ fahrungen, in einen Zusammenhang gebracht, und auf die reinste sinnliche Abstrac- tion zurückgeführt, eine Menge von Begriffen, mit denen sie operirt, ohne über ihr eigentliches Wesen nachzudenken, z. B. Raum, Große, Unendlichkeit und der¬ gleichen. Sie wird 'sich diesem Nachdenken nicht länger entziehen können, aber es wird nnr dann fruchtbar werden, wenn es sich nicht von der sonstigen wissen- schaftlichen Methode ablöst, sondern innerhalb derselben stattfindet. In jeder andern Wissenschaft ist das in noch weit höherm Grade der Fall. Die Beobachtung und die Analyse geben nnr das Material, mit welchem man construiren soll, nicht construiren a priori, sondern mit dem vorhandenen Material, und nach dem in der Wissenschaft liegenden Gesetz. Eins nach dem andern von den Gebieten, welche bisher die Philosophie ausschließlich in Anspruch nahm, wird dann der speciellen Wissenschaft anheimfallen, z. B. die sogenannte Psychologie, so weit dieselbe überhaupt in die Wissenschaft gehört und sich nicht in inviduelle Beobach- tungen auflöst. Auch die Logik und Metaphysik wird sich nicht länger außerhalb der übrigen Wissenschaften bewegen dürfen, sondern in dieselben aufgehen; sie wird also namentlich auch in ihrer Form streben müssen, sich der gewöhnlichen Sprache dieser Wissenschaften zu bequemen,. ' Das ist die eine Seite der Philosophie. Die andere ist nicht minder wichtig. In der christlichen Welt ist die Philosophie im Gegensatze zu den andern Wissen¬ schaften von dem Streben ausgegangen, die ideale Welt zu suchen, während je¬ nen die reale anheimgestellt blieb. In ihrer allmäligen Entwickelung ist sie end¬ lich dahin gekommen, zu begreifen, daß die ideale Welt nichts Anderes ist, als die reale. Sie hat damit ihre bisherigen Voraussetzungen und ihre bisherige

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/382>, abgerufen am 14.05.2024.