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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Schon diese doppelte, in wenig Wochen zusammengedrängte Wahl muß das
größte Bedenken erregen, wenn man die fieberhafte Aufregung in Anschlag bringt,
die eine jede derselben nothwendig macht. Da es sich hier nicht um einen gleich-
giltigen Act handelt, sondern um die Fortdauer der Gesellschaft, so wird voraus¬
sichtlich jeder Bürger Frankreichs sechs Wochen hindurch von seiner politischen
Thätigkeit vollständig absorbirt werden. Die Geschäfte werden während dieser
Zeit gänzlich stocken, theils wegen der Unsicherheit der nächsten Zukunft, theils
wegen der materiellen Unmöglichkeit, in dieser Periode Arbeiter zu finden; die
heftigsten Angriffe gegen die Kandidaten, die von den verschiedenen Parteien auf¬
gestellt werden, die gegenseitige Erhitzung in den Clubs und Wahlversammlungen,
das Zusammenströmen der Landleute in den kleinen Städten, wo sie die Erspar¬
nisse der letzten Wochen verzehrn, müssen, -- das Alles würde schon ein hinrei¬
chender Grund sein, für diese Zeit das Schlimmste zu befürchten. Allein es ist
nur der geringste Grund.

Während dieser Zeit hört alle legitime Thätigkeit der Behörden aus. Ab¬
gesehen von dem factischen vollständigen Interregnum, welches mit dem -10. Mai
beginnt, und 18 Tage dauert, ist auch die Autorität der hinsterbenden Gewalten,
sowol des Präsidenten als der Nationalversammlung, schon vorher so gering,
ihr Einfluß auf die einzelnen localen Behörden so unbedeutend, daß jenes Inter¬
regnum um wenigstens vier Wochen zurück datirt werden muß. Bis jetzt ist das
Wahlfieber nur dadurch gemäßigt worden, daß wenigstens vorläufig eine allge¬
mein anerkannte Autorität während desselben mit kräftiger Hand die Zügel des
Staats führte: Cavaignac im December i>8, Changarnier im Mai i9. Und doch
war damals die Schwierigkeit nicht blos um deswegen geringer, weil nur Eine
Wahl bevorstand, sondern vorzüglich deshalb, weil über den Modus der Wahl
kein Zweifel obwaltete. In beiden Punkten steht die Sache jetzt viel schlim¬
mer aus.

Am 31. Mai des vorigen Jahres hat die Nationalversammlung ein Gesetz
erlassen, nach welchem die Zahl der Urwähler durch die Nothwendigkeit eines
dreijährigen festen Domicils wesentlich beschränkt wird. Obgleich diese Bestim¬
mung mit dem Buchstaben der Konstitution in keinem directen Widerspruche steht,
ist sie dennoch von der gesäumten republikanischen Partei für null und nichtig erklärt.
Diese Partei, die schon in der Nationalversammlung selbst beinahe ein Drittel
ausmacht, und die in allen größern Städten über die Masse des Proletariats ge¬
bietet, nicht nur wegen der Gemeinsamkeit der Gesinnung, sondern durch eine
sehr streng durchgeführte Organisation, wird also im künftigen Jahre, durch keine
gesetzliche Gewalt mehr zurückgehalten, in jedem einzelnen Wahlbezirke schon über
den Wahlmodus einen Sturm veranlassen, der sich bei einem so lebhaften Volk,
wie die Franzosen es sind, keineswegs ans den Heroismus des passiven Wider¬
stands oder auf die Enthaltung von den Wahlen beschränken wird.


Schon diese doppelte, in wenig Wochen zusammengedrängte Wahl muß das
größte Bedenken erregen, wenn man die fieberhafte Aufregung in Anschlag bringt,
die eine jede derselben nothwendig macht. Da es sich hier nicht um einen gleich-
giltigen Act handelt, sondern um die Fortdauer der Gesellschaft, so wird voraus¬
sichtlich jeder Bürger Frankreichs sechs Wochen hindurch von seiner politischen
Thätigkeit vollständig absorbirt werden. Die Geschäfte werden während dieser
Zeit gänzlich stocken, theils wegen der Unsicherheit der nächsten Zukunft, theils
wegen der materiellen Unmöglichkeit, in dieser Periode Arbeiter zu finden; die
heftigsten Angriffe gegen die Kandidaten, die von den verschiedenen Parteien auf¬
gestellt werden, die gegenseitige Erhitzung in den Clubs und Wahlversammlungen,
das Zusammenströmen der Landleute in den kleinen Städten, wo sie die Erspar¬
nisse der letzten Wochen verzehrn, müssen, — das Alles würde schon ein hinrei¬
chender Grund sein, für diese Zeit das Schlimmste zu befürchten. Allein es ist
nur der geringste Grund.

Während dieser Zeit hört alle legitime Thätigkeit der Behörden aus. Ab¬
gesehen von dem factischen vollständigen Interregnum, welches mit dem -10. Mai
beginnt, und 18 Tage dauert, ist auch die Autorität der hinsterbenden Gewalten,
sowol des Präsidenten als der Nationalversammlung, schon vorher so gering,
ihr Einfluß auf die einzelnen localen Behörden so unbedeutend, daß jenes Inter¬
regnum um wenigstens vier Wochen zurück datirt werden muß. Bis jetzt ist das
Wahlfieber nur dadurch gemäßigt worden, daß wenigstens vorläufig eine allge¬
mein anerkannte Autorität während desselben mit kräftiger Hand die Zügel des
Staats führte: Cavaignac im December i>8, Changarnier im Mai i9. Und doch
war damals die Schwierigkeit nicht blos um deswegen geringer, weil nur Eine
Wahl bevorstand, sondern vorzüglich deshalb, weil über den Modus der Wahl
kein Zweifel obwaltete. In beiden Punkten steht die Sache jetzt viel schlim¬
mer aus.

Am 31. Mai des vorigen Jahres hat die Nationalversammlung ein Gesetz
erlassen, nach welchem die Zahl der Urwähler durch die Nothwendigkeit eines
dreijährigen festen Domicils wesentlich beschränkt wird. Obgleich diese Bestim¬
mung mit dem Buchstaben der Konstitution in keinem directen Widerspruche steht,
ist sie dennoch von der gesäumten republikanischen Partei für null und nichtig erklärt.
Diese Partei, die schon in der Nationalversammlung selbst beinahe ein Drittel
ausmacht, und die in allen größern Städten über die Masse des Proletariats ge¬
bietet, nicht nur wegen der Gemeinsamkeit der Gesinnung, sondern durch eine
sehr streng durchgeführte Organisation, wird also im künftigen Jahre, durch keine
gesetzliche Gewalt mehr zurückgehalten, in jedem einzelnen Wahlbezirke schon über
den Wahlmodus einen Sturm veranlassen, der sich bei einem so lebhaften Volk,
wie die Franzosen es sind, keineswegs ans den Heroismus des passiven Wider¬
stands oder auf die Enthaltung von den Wahlen beschränken wird.


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[0438] Schon diese doppelte, in wenig Wochen zusammengedrängte Wahl muß das größte Bedenken erregen, wenn man die fieberhafte Aufregung in Anschlag bringt, die eine jede derselben nothwendig macht. Da es sich hier nicht um einen gleich- giltigen Act handelt, sondern um die Fortdauer der Gesellschaft, so wird voraus¬ sichtlich jeder Bürger Frankreichs sechs Wochen hindurch von seiner politischen Thätigkeit vollständig absorbirt werden. Die Geschäfte werden während dieser Zeit gänzlich stocken, theils wegen der Unsicherheit der nächsten Zukunft, theils wegen der materiellen Unmöglichkeit, in dieser Periode Arbeiter zu finden; die heftigsten Angriffe gegen die Kandidaten, die von den verschiedenen Parteien auf¬ gestellt werden, die gegenseitige Erhitzung in den Clubs und Wahlversammlungen, das Zusammenströmen der Landleute in den kleinen Städten, wo sie die Erspar¬ nisse der letzten Wochen verzehrn, müssen, — das Alles würde schon ein hinrei¬ chender Grund sein, für diese Zeit das Schlimmste zu befürchten. Allein es ist nur der geringste Grund. Während dieser Zeit hört alle legitime Thätigkeit der Behörden aus. Ab¬ gesehen von dem factischen vollständigen Interregnum, welches mit dem -10. Mai beginnt, und 18 Tage dauert, ist auch die Autorität der hinsterbenden Gewalten, sowol des Präsidenten als der Nationalversammlung, schon vorher so gering, ihr Einfluß auf die einzelnen localen Behörden so unbedeutend, daß jenes Inter¬ regnum um wenigstens vier Wochen zurück datirt werden muß. Bis jetzt ist das Wahlfieber nur dadurch gemäßigt worden, daß wenigstens vorläufig eine allge¬ mein anerkannte Autorität während desselben mit kräftiger Hand die Zügel des Staats führte: Cavaignac im December i>8, Changarnier im Mai i9. Und doch war damals die Schwierigkeit nicht blos um deswegen geringer, weil nur Eine Wahl bevorstand, sondern vorzüglich deshalb, weil über den Modus der Wahl kein Zweifel obwaltete. In beiden Punkten steht die Sache jetzt viel schlim¬ mer aus. Am 31. Mai des vorigen Jahres hat die Nationalversammlung ein Gesetz erlassen, nach welchem die Zahl der Urwähler durch die Nothwendigkeit eines dreijährigen festen Domicils wesentlich beschränkt wird. Obgleich diese Bestim¬ mung mit dem Buchstaben der Konstitution in keinem directen Widerspruche steht, ist sie dennoch von der gesäumten republikanischen Partei für null und nichtig erklärt. Diese Partei, die schon in der Nationalversammlung selbst beinahe ein Drittel ausmacht, und die in allen größern Städten über die Masse des Proletariats ge¬ bietet, nicht nur wegen der Gemeinsamkeit der Gesinnung, sondern durch eine sehr streng durchgeführte Organisation, wird also im künftigen Jahre, durch keine gesetzliche Gewalt mehr zurückgehalten, in jedem einzelnen Wahlbezirke schon über den Wahlmodus einen Sturm veranlassen, der sich bei einem so lebhaften Volk, wie die Franzosen es sind, keineswegs ans den Heroismus des passiven Wider¬ stands oder auf die Enthaltung von den Wahlen beschränken wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/438>, abgerufen am 14.05.2024.