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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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des Staats, welche durch das Ueberwuchern der Volkskraft sehr bald gesprengt
werden mußte. So machte der Rationalismus, der früher mit entschiedenem
Glück die Aeußerlichkeiten des Christenthums bekämpft hatte, in seinem Versuch,
eine neue theophilauthropische Religion zu gründen, den schmählichsten Bcmquerout,
und da mau uoch uicht zu der Einsicht gekommen war, daß die Kritik, wenn sie
mit wissenschaftlichem Ernst und wissenschaftlicher Strenge verfährt, an sich selber
etwas Positives ist, und ebenso im Stande, das Große und Bleibende in der
tntisirten Erscheinung- zu bewahren, als ihre Irrwege aufzudecken, so mußte man
in die Berechtigung der Kritik überhaupt Zweifel setzen, und sich mit seinem Ver¬
stände so weit abfinden, daß man ihn zwar nicht zu widerlegen wisse, daß er
aber in heiligen Dingen nicht mitzusprechen habe: ein religiöser Standpunkt, der
keineswegs so unbefangen und primitiv ist, wie die heutige Orthodoxie es sich
einbildet, sondern den man erst durch eine Reihe vergeblicher und schmerzlicher
Anstrengungen gewinnt. So erwies sich die Idee des Weltbürgerthums, die
man theilweise dem Christenthum entlehnt hatte, und die sich zuletzt in die Prosa
Adam Smith'S flüchten mußte, sogar als unfähig, auch nur die nationale Sub¬
stanz des weltbefreienden Volkes abzuschwächen, denn was nach den Schrecknissen
der Revolution übrig blieb, war im Wesentlichen nur die nationale Spannkraft,
die in ihrem erobernden Streben ebenso repulsiv gegen die Freiheitsideen der
übrigen Volker sich verhielt, als gegen ihre nationalen Besonderheiten. So be¬
schränkte sich die Idee der Gleichheit ans das rohe Nivellirer aller hervorragenden
Kräfte, bis sie sich erst im Sansculottismus, dann im gemeinsamen Dienst des all¬
gewaltigen Herrn verlor. So mußte man in der Einseitigkeit der liberalen Ideen
zu gleicher Zeit die Gefahr erkennen, daß sie in ihr Gegentheil umschlugen: die
abstracte Idee der Humanität führte zur Permanenz der Blutgerichte, die abstracte
Idee der Freiheit und Gleichheit zur Despotie. Und wenn man so in der poli¬
tischen und sittlichen Anwendung des Princips der Aufklärung die Irrthümer und
Verworrenheiten aufgespürt hatte, mußte man auch darauf komme", seiner erstem
Quelle nachzugehen und in der einseitig mathematischen Methode der Naturwissen¬
schaften, welche den Geist verläugnet, jene Unprodnctivität erkennen, die nicht ein¬
mal ihres eigenen Gegenstandes Herr wird.

Die Reaction gegen den Geist der Ausklärung ging also in der Wissenschaft
wie im Leben gegen die Formen des mathematischen Beweises, und bezog sich
auf die Intuition. Der erste bedeutende politische Schriftsteller, welcher die Re¬
volution nicht nur in ihren Ausschweifungen, sondern in ihrem Grundgedanken
und in ihrer Voraussetzung offen zu bekämpfen wagte, Edmund Burke, stellte
der Doctrin des Liberalismus keineswegs eine entgegengesetzte Doctrin gegenüber,
sondern eine Reihe poetisch-historischer Anschauungen von den Vorzügen des ge¬
müthlichen Feudalsystems, des ^ heroischen Ritterthums und der geheiligten Königs¬
gewalt. Ebenso sammelte Chateaubriand in seinem Geist des Christenthums


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des Staats, welche durch das Ueberwuchern der Volkskraft sehr bald gesprengt
werden mußte. So machte der Rationalismus, der früher mit entschiedenem
Glück die Aeußerlichkeiten des Christenthums bekämpft hatte, in seinem Versuch,
eine neue theophilauthropische Religion zu gründen, den schmählichsten Bcmquerout,
und da mau uoch uicht zu der Einsicht gekommen war, daß die Kritik, wenn sie
mit wissenschaftlichem Ernst und wissenschaftlicher Strenge verfährt, an sich selber
etwas Positives ist, und ebenso im Stande, das Große und Bleibende in der
tntisirten Erscheinung- zu bewahren, als ihre Irrwege aufzudecken, so mußte man
in die Berechtigung der Kritik überhaupt Zweifel setzen, und sich mit seinem Ver¬
stände so weit abfinden, daß man ihn zwar nicht zu widerlegen wisse, daß er
aber in heiligen Dingen nicht mitzusprechen habe: ein religiöser Standpunkt, der
keineswegs so unbefangen und primitiv ist, wie die heutige Orthodoxie es sich
einbildet, sondern den man erst durch eine Reihe vergeblicher und schmerzlicher
Anstrengungen gewinnt. So erwies sich die Idee des Weltbürgerthums, die
man theilweise dem Christenthum entlehnt hatte, und die sich zuletzt in die Prosa
Adam Smith'S flüchten mußte, sogar als unfähig, auch nur die nationale Sub¬
stanz des weltbefreienden Volkes abzuschwächen, denn was nach den Schrecknissen
der Revolution übrig blieb, war im Wesentlichen nur die nationale Spannkraft,
die in ihrem erobernden Streben ebenso repulsiv gegen die Freiheitsideen der
übrigen Volker sich verhielt, als gegen ihre nationalen Besonderheiten. So be¬
schränkte sich die Idee der Gleichheit ans das rohe Nivellirer aller hervorragenden
Kräfte, bis sie sich erst im Sansculottismus, dann im gemeinsamen Dienst des all¬
gewaltigen Herrn verlor. So mußte man in der Einseitigkeit der liberalen Ideen
zu gleicher Zeit die Gefahr erkennen, daß sie in ihr Gegentheil umschlugen: die
abstracte Idee der Humanität führte zur Permanenz der Blutgerichte, die abstracte
Idee der Freiheit und Gleichheit zur Despotie. Und wenn man so in der poli¬
tischen und sittlichen Anwendung des Princips der Aufklärung die Irrthümer und
Verworrenheiten aufgespürt hatte, mußte man auch darauf komme», seiner erstem
Quelle nachzugehen und in der einseitig mathematischen Methode der Naturwissen¬
schaften, welche den Geist verläugnet, jene Unprodnctivität erkennen, die nicht ein¬
mal ihres eigenen Gegenstandes Herr wird.

Die Reaction gegen den Geist der Ausklärung ging also in der Wissenschaft
wie im Leben gegen die Formen des mathematischen Beweises, und bezog sich
auf die Intuition. Der erste bedeutende politische Schriftsteller, welcher die Re¬
volution nicht nur in ihren Ausschweifungen, sondern in ihrem Grundgedanken
und in ihrer Voraussetzung offen zu bekämpfen wagte, Edmund Burke, stellte
der Doctrin des Liberalismus keineswegs eine entgegengesetzte Doctrin gegenüber,
sondern eine Reihe poetisch-historischer Anschauungen von den Vorzügen des ge¬
müthlichen Feudalsystems, des ^ heroischen Ritterthums und der geheiligten Königs¬
gewalt. Ebenso sammelte Chateaubriand in seinem Geist des Christenthums


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/55>, abgerufen am 28.05.2024.