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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Geschmacklosigkeiten frei. Sie gefiel indeß dem Publicum bedeutend weniger, als
eine italienische Sängerin, Sgna. Angri, die eine vortreffliche Altstimme, aber
viele für einen gebildeten Geschmack unerträgliche, nur auf die Masse berechnete
Manieren hatte. Die Biscaccianti saug nur kurze Zeit in den National-Concer-
ten; ihr frühzeitiges Verschwinden war eigenthümlich englisch. Sie wollte eine
Arie singen, in der die Flöte eine hervortretende Rolle spielt. Sie kommt in
das Concert und Hort zu ihrem Schrecken, daß die Flötenstimme verloren gegangen
ist. Sie erklärt, in diesem Falle könne sie nicht singen; man beruhigt sie mit
der Hoffnung, die Stimme werde sich sicher finden, und bewegt sie, aufzutreten.
Die Arme erscheint vor dem Publicum; das Vorspiel beginnt, aber die Flöte
schweigt. Eine affectirte Ohnmacht -- sie wird hinaufgebracht. -- Doch das
englische Publicum ist mit solchen Taschenspielerkünsten nicht abzufertigen; auch ist
es überfroh, wenn es eine Gelegenheit findet, sich etwas tumultuarisch zu äußern,
-- es verlangt also stürmisch, die Biscacciauti solle die auf dem Programm an¬
gezeigte Arie singen. Balfe tritt ans und erklärt die Sängerin krank; die Ent¬
schuldigung wird uicht acceptirt. Die nächste Nummer beginnt; der auftretende
Künstler, obgleich von der höchsten Popularität, wird mit Zischen empfangen, be¬
ginnt und endigt seine Piece unter dem Zischen des Publicums. Indeß zuletzt
zogen beide Theile deu Kürzern; das Publicum mußte ans die Arie Verzicht leisten,
und Madame Biscacciauti aus das weitere Auftreten vor dem Publicum. -- Be-
deutende englische Virtuosen ans dem Gebiet der Instrumentalmusik habe ich nicht
gehört. Ein Violinist, Mr. Hayward, entzückte die Engländer, obgleich er un¬
erträglich unrein und eine Auswahl der langweiligsten Kompositionen spielte, und
obgleich ein Virtuose von der höchsten Bedeutung, nämlich Sainton, mit ihm
zugleich auftrat; ein Flötist, Mr. Richardson, glänzte dnrch Fertigkeit, hatte
aber einen kleinen und seelenlosen Ton und ging mir darauf hinaus, seiue Fer¬
tigkeit zu zeigen. Eine Pianistin endlich, Miß Goddard, zeigte sich als eine
talentvolle und fleißige Schülerin Thalberg'ö.

Das musikalische Leben Londons war den Herbst ans die großen Concert-
Arrangements beschränkt. Ein Franzose, Namens Jullien, spielt scholl seit mehreren
Jahren eine Hauptrolle in London. In Paris hat er eine ähnliche Stellung,
wie der in Deutschland bekanntere Mnsard -- er componirt Tänze und bringt sie
mit allem Aufwand von Charlatanerie in die Welt; ja auch als Dirigent zieht
er, genau wie Musard, die Aufmerksamkeit des Publicums ans seine wunderbaren
und ungestümen Gesticulationen, ein Kunstgriff, der bei einem im Ganzen unmu¬
sikalischen Publicum uicht ohne Vortheil sein mag. Uebrigens hält er sein
Orchester zusammen, viel besser als Balfe. Jullien begibt sich jeden Novem¬
ber nach London, um hier für die Dauer eines Monats eine Reihe von täg¬
lich stattfindenden Concerten zu leiten, die mit einem Maskenball eröffnet und
beschlossen werden -- ein Maskenball, der beiläufig zu dem Großartigsten ge-


Geschmacklosigkeiten frei. Sie gefiel indeß dem Publicum bedeutend weniger, als
eine italienische Sängerin, Sgna. Angri, die eine vortreffliche Altstimme, aber
viele für einen gebildeten Geschmack unerträgliche, nur auf die Masse berechnete
Manieren hatte. Die Biscaccianti saug nur kurze Zeit in den National-Concer-
ten; ihr frühzeitiges Verschwinden war eigenthümlich englisch. Sie wollte eine
Arie singen, in der die Flöte eine hervortretende Rolle spielt. Sie kommt in
das Concert und Hort zu ihrem Schrecken, daß die Flötenstimme verloren gegangen
ist. Sie erklärt, in diesem Falle könne sie nicht singen; man beruhigt sie mit
der Hoffnung, die Stimme werde sich sicher finden, und bewegt sie, aufzutreten.
Die Arme erscheint vor dem Publicum; das Vorspiel beginnt, aber die Flöte
schweigt. Eine affectirte Ohnmacht — sie wird hinaufgebracht. — Doch das
englische Publicum ist mit solchen Taschenspielerkünsten nicht abzufertigen; auch ist
es überfroh, wenn es eine Gelegenheit findet, sich etwas tumultuarisch zu äußern,
— es verlangt also stürmisch, die Biscacciauti solle die auf dem Programm an¬
gezeigte Arie singen. Balfe tritt ans und erklärt die Sängerin krank; die Ent¬
schuldigung wird uicht acceptirt. Die nächste Nummer beginnt; der auftretende
Künstler, obgleich von der höchsten Popularität, wird mit Zischen empfangen, be¬
ginnt und endigt seine Piece unter dem Zischen des Publicums. Indeß zuletzt
zogen beide Theile deu Kürzern; das Publicum mußte ans die Arie Verzicht leisten,
und Madame Biscacciauti aus das weitere Auftreten vor dem Publicum. — Be-
deutende englische Virtuosen ans dem Gebiet der Instrumentalmusik habe ich nicht
gehört. Ein Violinist, Mr. Hayward, entzückte die Engländer, obgleich er un¬
erträglich unrein und eine Auswahl der langweiligsten Kompositionen spielte, und
obgleich ein Virtuose von der höchsten Bedeutung, nämlich Sainton, mit ihm
zugleich auftrat; ein Flötist, Mr. Richardson, glänzte dnrch Fertigkeit, hatte
aber einen kleinen und seelenlosen Ton und ging mir darauf hinaus, seiue Fer¬
tigkeit zu zeigen. Eine Pianistin endlich, Miß Goddard, zeigte sich als eine
talentvolle und fleißige Schülerin Thalberg'ö.

Das musikalische Leben Londons war den Herbst ans die großen Concert-
Arrangements beschränkt. Ein Franzose, Namens Jullien, spielt scholl seit mehreren
Jahren eine Hauptrolle in London. In Paris hat er eine ähnliche Stellung,
wie der in Deutschland bekanntere Mnsard — er componirt Tänze und bringt sie
mit allem Aufwand von Charlatanerie in die Welt; ja auch als Dirigent zieht
er, genau wie Musard, die Aufmerksamkeit des Publicums ans seine wunderbaren
und ungestümen Gesticulationen, ein Kunstgriff, der bei einem im Ganzen unmu¬
sikalischen Publicum uicht ohne Vortheil sein mag. Uebrigens hält er sein
Orchester zusammen, viel besser als Balfe. Jullien begibt sich jeden Novem¬
ber nach London, um hier für die Dauer eines Monats eine Reihe von täg¬
lich stattfindenden Concerten zu leiten, die mit einem Maskenball eröffnet und
beschlossen werden — ein Maskenball, der beiläufig zu dem Großartigsten ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/41>, abgerufen am 22.05.2024.