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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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lich. Denn der Dichter kann nnr dann etwas schaffen, wenn seine Phantasie
auf eine anmuthige Weise gereizt wird. Das aber, was bereits in dem Schatze
der Poesie an Empfindungen und Formen niedergelegt und als Moment der
eigenen Bildung aufgenommen ist, reizt in der alten Physiognomie die Phantasie
nicht so mächtig, daß der schöpferische Trieb kräftig erwachte. Die mit Bewußt¬
sein reproducirende Phantasie ist uicht productiv, uur das Selbstgefuudeue er¬
weckt die gestaltende Kraft. Da uun die Stosse, die poetischen Tonarten, die
Versmaße jetzt als von Außer gegeben in der Seele klingen, wird sie gedrängt, das
Lockende und "Schone" in originalen Beiwerk zu suchen, und dies zum großen
Theil unbewußte Streben ist es, was zu wunderlichem, gesuchtem und fremd¬
artigem Putz führt, hinter dem sich -- für den Dichter zuerst -- die Reproduction
des bereits Vorhandenen, die Schwächen einer genießenden Zeit, verbergen.
Die Sprache dieser neuen Gedichte wird auf ähnliche Weise von der fatalen Lage
uuserer lyrischen Dichter ergriffen. Es ist eine große Fülle von poetischen Re¬
densarten, Wendungen, Wörtern und Maßen vorhanden, daß fast für jede
poetische Empfindung eine sprachliche und metrische Reminiscenz leise oder Heller
in der dichterischen Seele mit klingt. Daher neben ermüdender, unbewußter
und bewußter Nachahmung bekannter Versmaße, poetischer Sätze und Aus¬
drucksweisen ebenfalls das Streben nach noch nicht Dagewesenem, nach Raffine¬
ment im Versmaß und den Worten; Und wieder dicht nach dem Raf¬
finement die größte Rohheit in Sprache und Vers. Da nämlich die
Masse der poetischen Tonweisen, Wendungen und Redensarten so unend¬
lich groß geworden ist, daß sie als eine Art geistiger Scheidemünze überall ein¬
genommen und ausgegeben worden, ist es unendlich leichter geworden, eine
menschliche Empfindung in erträglicher poetischer Sprache auszudrücken, als dies
vor tlo, 70 Jahren war. Gleim, Hölty, Bürger sind etwas Großes für uus,
nicht sowohl, weil ihre Gedichte besser sind, als die, welche jetzt gemacht werden,
sondern weil jedes dieser Gedichte ein Sieg über die Rohheit und Knnstlosigkeit
der damaligen Sprache, eine wahrhafte Eroberung für das Gebiet der Poesie
war. Jetzt vermag jeder Narr, wenn er seinen Schiller oder Heine auswendig
gelernt hat, etwas zusammenzuschreiben, das sein Gedicht genannt werden kann,
obgleich villeicht kein Atom anders als durch unbewußte Reproduction entstanden
ist. Und weil es so leicht geworden ist zu dichten, haben unsere Dichter fast
alle das verloren, was zu aller Zeit auch das größte Talent erst genießbar macht,
die Technik. Sie schreiben dilettantisch ans der Anzahl ihrer Reminiscenzen von
Stoffen und Tönen mit unserer gan; poetisch zubereiteten Sprache ihre Verse
zusammen, denen in Wahrheit jede künstlerische Ausbildung fehlt, und welche
der Regel nach nichts sind, als eine rohe und unschöne Parodie jener künst¬
lerischer Schöpfungen, welche durch ein ernsteres Streben und stille Kämpfe mit
der Sprache geweiht waren. Unter den zahlreichen neueren Dichtern in Deutsch-


lich. Denn der Dichter kann nnr dann etwas schaffen, wenn seine Phantasie
auf eine anmuthige Weise gereizt wird. Das aber, was bereits in dem Schatze
der Poesie an Empfindungen und Formen niedergelegt und als Moment der
eigenen Bildung aufgenommen ist, reizt in der alten Physiognomie die Phantasie
nicht so mächtig, daß der schöpferische Trieb kräftig erwachte. Die mit Bewußt¬
sein reproducirende Phantasie ist uicht productiv, uur das Selbstgefuudeue er¬
weckt die gestaltende Kraft. Da uun die Stosse, die poetischen Tonarten, die
Versmaße jetzt als von Außer gegeben in der Seele klingen, wird sie gedrängt, das
Lockende und „Schone" in originalen Beiwerk zu suchen, und dies zum großen
Theil unbewußte Streben ist es, was zu wunderlichem, gesuchtem und fremd¬
artigem Putz führt, hinter dem sich — für den Dichter zuerst — die Reproduction
des bereits Vorhandenen, die Schwächen einer genießenden Zeit, verbergen.
Die Sprache dieser neuen Gedichte wird auf ähnliche Weise von der fatalen Lage
uuserer lyrischen Dichter ergriffen. Es ist eine große Fülle von poetischen Re¬
densarten, Wendungen, Wörtern und Maßen vorhanden, daß fast für jede
poetische Empfindung eine sprachliche und metrische Reminiscenz leise oder Heller
in der dichterischen Seele mit klingt. Daher neben ermüdender, unbewußter
und bewußter Nachahmung bekannter Versmaße, poetischer Sätze und Aus¬
drucksweisen ebenfalls das Streben nach noch nicht Dagewesenem, nach Raffine¬
ment im Versmaß und den Worten; Und wieder dicht nach dem Raf¬
finement die größte Rohheit in Sprache und Vers. Da nämlich die
Masse der poetischen Tonweisen, Wendungen und Redensarten so unend¬
lich groß geworden ist, daß sie als eine Art geistiger Scheidemünze überall ein¬
genommen und ausgegeben worden, ist es unendlich leichter geworden, eine
menschliche Empfindung in erträglicher poetischer Sprache auszudrücken, als dies
vor tlo, 70 Jahren war. Gleim, Hölty, Bürger sind etwas Großes für uus,
nicht sowohl, weil ihre Gedichte besser sind, als die, welche jetzt gemacht werden,
sondern weil jedes dieser Gedichte ein Sieg über die Rohheit und Knnstlosigkeit
der damaligen Sprache, eine wahrhafte Eroberung für das Gebiet der Poesie
war. Jetzt vermag jeder Narr, wenn er seinen Schiller oder Heine auswendig
gelernt hat, etwas zusammenzuschreiben, das sein Gedicht genannt werden kann,
obgleich villeicht kein Atom anders als durch unbewußte Reproduction entstanden
ist. Und weil es so leicht geworden ist zu dichten, haben unsere Dichter fast
alle das verloren, was zu aller Zeit auch das größte Talent erst genießbar macht,
die Technik. Sie schreiben dilettantisch ans der Anzahl ihrer Reminiscenzen von
Stoffen und Tönen mit unserer gan; poetisch zubereiteten Sprache ihre Verse
zusammen, denen in Wahrheit jede künstlerische Ausbildung fehlt, und welche
der Regel nach nichts sind, als eine rohe und unschöne Parodie jener künst¬
lerischer Schöpfungen, welche durch ein ernsteres Streben und stille Kämpfe mit
der Sprache geweiht waren. Unter den zahlreichen neueren Dichtern in Deutsch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/46>, abgerufen am 22.05.2024.