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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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kahlen Spitzen, und von Osten her schaut je nach den Windungen des Flusses auf
längere oder kürzere Zeit die Kette der Alpen mit ihren Schneegipfeln in die
reiche Landschaft herüber. Es kann nicht leicht eine angenehmere Fahrt geben,
und auch, wenn die Eisenbahn von Lyon nach Avignon, die jetzt unternommen
werden soll, vollendet ist, wird Jeder, dem es auf einige Stunden nicht ankommt,
das Dampfboot vorziehen.

Pfeilschnell flogen wir den Strom hinab; in wenigen Stunden war Vienne,
um Mittag Valence erreicht. Ich wüßte kaum etwas, was den Fortschritt der Cul¬
tur deutlicher und sichtbarer zeigte, als die Leichtigkeit und der Comfort, womit
mau heutzutage im größten Theil von Europa reist. Wer sich mit der Schnellig¬
keit des Traums über ungeheure Weiten getragen sieht, bequem und mühelos
tausend wechselnde Eindrücke empfängt, denkt manchmal mit mitleidigem Behagen
an die Mühseligkeiten, die unsre Vorfahren zu bestehen hatten, wenn sie sich ge¬
lüsten ließen, andrer Männer Städte zu sehen und ihren Sinn zu erkenne". Was
war das vor hundert Jahre" für ein kühnes, gefährliches, kostspieliges Unterneh¬
men! Unter Smollet's Werken findet sich die Beschreibung einer Reise, die er
im Jahre 1763 zur Herstellung seiner Gesundheit über Frankreich nach Italien
machte, und die, beiläufig gesagt, zuerst den Ruhm des Klima's von Nizza im Nor¬
den begründete, Ich entnehme daraus einige für die damalige Art zu reisen
charakteristische Notizen. Während man jetzt den Weg von Paris nach Lyon in
20 Stunden zurücklegt, brauchte die Diligence damals fünf Tage, während welcher
die Reisenden allen möglichen Prüfungen ausgesetzt waren. Mitunter wurden sie
zu achten in einen viersitzigen Wagen gepackt; um drei oder vier mußten sie
ihr Nachtlager verlassen; die beiden letzten Tage brachten sie auf der Saone zu.
Die Rhoueschifffahrt war stromabwärts bei gutem Wetter zwar ohne Gefahr, doch
pflegten beim Pont de Se. Esprit die Boote bisweilen umzuschlagen: stromauf¬
wärts wurden sie von Ochsen gezogen. Auch fand Smollet für gut, bei der
Abreise von Lyon, wegen einer kürzlich vorgefallener Beraubung, seine Muskete mit
acht Kugeln zu laden. Bei Valence vorüberfahrend wurden die Reisenden durch
den Anblick des Galgens dieser guten Stadt erfreut, an dein der nackte Körper
eines Räubers schwebte, während ein anderer zerschmettert ans dem Rade lag.
Zu diesen und andern Annehmlichkeiten kam noch, daß im ganzen Süden von
Frankreich, ausgenommen in großen Städten, die Gasthöfe kalt, feucht, dunkel,
unbequem und schmuzig, die Wirthe unhöflich und räuberisch, die Diener tölpel¬
haft, schlumpig und träge, die Postillone faul, gierig und unverschämt waren.
Das einzige Mittel, mit einigem Comfort zu reisen, war, sich ruhig betrügen zu
lassen, und den guten Willen der Leute durch außerordentliche Belohnungen zu
erkaufen.

Um sechs Uhr waren wir in Avignon, und nachdem ich mich aus den Hän¬
den einer Menge von schreienden und gesticulireuden Proveu^aler glücklich befreit,


kahlen Spitzen, und von Osten her schaut je nach den Windungen des Flusses auf
längere oder kürzere Zeit die Kette der Alpen mit ihren Schneegipfeln in die
reiche Landschaft herüber. Es kann nicht leicht eine angenehmere Fahrt geben,
und auch, wenn die Eisenbahn von Lyon nach Avignon, die jetzt unternommen
werden soll, vollendet ist, wird Jeder, dem es auf einige Stunden nicht ankommt,
das Dampfboot vorziehen.

Pfeilschnell flogen wir den Strom hinab; in wenigen Stunden war Vienne,
um Mittag Valence erreicht. Ich wüßte kaum etwas, was den Fortschritt der Cul¬
tur deutlicher und sichtbarer zeigte, als die Leichtigkeit und der Comfort, womit
mau heutzutage im größten Theil von Europa reist. Wer sich mit der Schnellig¬
keit des Traums über ungeheure Weiten getragen sieht, bequem und mühelos
tausend wechselnde Eindrücke empfängt, denkt manchmal mit mitleidigem Behagen
an die Mühseligkeiten, die unsre Vorfahren zu bestehen hatten, wenn sie sich ge¬
lüsten ließen, andrer Männer Städte zu sehen und ihren Sinn zu erkenne». Was
war das vor hundert Jahre« für ein kühnes, gefährliches, kostspieliges Unterneh¬
men! Unter Smollet's Werken findet sich die Beschreibung einer Reise, die er
im Jahre 1763 zur Herstellung seiner Gesundheit über Frankreich nach Italien
machte, und die, beiläufig gesagt, zuerst den Ruhm des Klima's von Nizza im Nor¬
den begründete, Ich entnehme daraus einige für die damalige Art zu reisen
charakteristische Notizen. Während man jetzt den Weg von Paris nach Lyon in
20 Stunden zurücklegt, brauchte die Diligence damals fünf Tage, während welcher
die Reisenden allen möglichen Prüfungen ausgesetzt waren. Mitunter wurden sie
zu achten in einen viersitzigen Wagen gepackt; um drei oder vier mußten sie
ihr Nachtlager verlassen; die beiden letzten Tage brachten sie auf der Saone zu.
Die Rhoueschifffahrt war stromabwärts bei gutem Wetter zwar ohne Gefahr, doch
pflegten beim Pont de Se. Esprit die Boote bisweilen umzuschlagen: stromauf¬
wärts wurden sie von Ochsen gezogen. Auch fand Smollet für gut, bei der
Abreise von Lyon, wegen einer kürzlich vorgefallener Beraubung, seine Muskete mit
acht Kugeln zu laden. Bei Valence vorüberfahrend wurden die Reisenden durch
den Anblick des Galgens dieser guten Stadt erfreut, an dein der nackte Körper
eines Räubers schwebte, während ein anderer zerschmettert ans dem Rade lag.
Zu diesen und andern Annehmlichkeiten kam noch, daß im ganzen Süden von
Frankreich, ausgenommen in großen Städten, die Gasthöfe kalt, feucht, dunkel,
unbequem und schmuzig, die Wirthe unhöflich und räuberisch, die Diener tölpel¬
haft, schlumpig und träge, die Postillone faul, gierig und unverschämt waren.
Das einzige Mittel, mit einigem Comfort zu reisen, war, sich ruhig betrügen zu
lassen, und den guten Willen der Leute durch außerordentliche Belohnungen zu
erkaufen.

Um sechs Uhr waren wir in Avignon, und nachdem ich mich aus den Hän¬
den einer Menge von schreienden und gesticulireuden Proveu^aler glücklich befreit,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/119>, abgerufen am 13.05.2024.