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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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schlimmer wirkt, als der gewöhnliche Egoismus. Fleetwood treibt in einem An¬
fall wahnsinniger Eifersucht seine Frau aus dem Hause ins Elend, und überläßt
sich dann den wildesten Ausbrüchen des verletzten Gefühls. Marie, sein Weib,
verfällt in partielle Verrücktheit, wird dann wieder ausgelassen lustig u. s. w., kurz,
ein Raffinement des Gefühls, wie es selbst die Erfindungen der neueren fran¬
zösischen Romanschreiber überbietet. Jean Paul hat sich in seinem Siebenkäs
einen ähnlichen Vorwurf gestellt, aber er hat seiue Kunst vorzugsweise in jenen
unbemerkbarer feinen Zügen entwickelt, die anch in krankhaften Verhältnissen ein
gewisses Interesse hervorrufen, während Godwin immer im Pathos höchster Lei¬
denschaft verbleibt. Abgesehen von diesen Uebelständen, die mit dem Inhalt un¬
zertrennlich sind, ist anch in der Form Vieles verfehlt. Es herrscht eine schlechte
Oekonomie, dem Zufall ist zu viel überlassen, und die episodischen Schilderungen
von den einsamen Studien, von den abenteuerlichen Studentengeschichten, von
den Ausschweifungen des Pariser Lebens, von den schweizer Landschaften ze. ab-
sorbiren das Interesse, welches eigentlich der Hauptsache zu Theil werden sollte.
Trotzdem fesselt der Roman die Phantasie, und die dunklen Partien desselben
sind mit der Kraft eines Salvator Rosa gezeichnet. -- Die späteren Ro¬
mane: NaQäevMe (1817) und Clauässl^ (1830) fallen wesentlich in dieselbe
Kategorie.

Auch die übrigen Schriften Godwin's tragen diesen Charakter. Am meisten
charakteristisch ist sein Leben Chancer's, 1803. Es ist jene pseudophilosophische
Manier der Geschichtschreibung, an die wir in Deutschland nur zu sehr ge¬
wöhnt sind, die sich aus Vermuthungen, Antithesen und Vergleichen zusammensetzt,
und anstatt dem Gegenstand gerecht zu werden, nur den Geist des Autors zu
entwickeln sucht. Er spricht mit einer ziemlichen Geringschätzung von der ältern
Kritik, und stellt es als seine Aufgabe dar, nicht nur den Geist der Philosophie,
sondern anch die Bilder der Einbildungskrast in das dürre Feld der Geschicht¬
schreibung einzuführen. Von seinem wunderlichen Styl, der freilich in neuerer
Zeit durch Carlyle unendlich übertroffen ist, gebe ich hier ein Beispiel. Er spricht
von den Pfeilern der gothischen Architektur, und meint, sie geben uns eine Idee
der Schwäche und Hinfälligkeit, und erinnern uns beinahe an das demüthige
Werkzeug, durch welches der englische und deutsche Bauer den Rauch des indi¬
schen Krautes einschlürft (8uK^e8tinA- an lava krank^ cruel iilmost rernmäinx
"8 ot' tlo dumdls vekiele tdrvugli ^ock -rü LuKl^d ana Kerman rü8tie
midies Nie kam<Z8 ok tuo lnäwn revu). Neben diesen schwülstigen Ausdrücken
kommt dann wieder eine Reihe kurzer Sätze, in denen die unbedeutendsten Be¬
merkungen durch die Form des Lapidarstyls zu einer unberechtigten Wichtigkeit
heraufgeschraubt werden. Dasselbe gilt von seiner "Geschichte des englischen Ge¬
meinwesens", 1824--28, von seinem "Versuch über die Begräbnisse", 1808, von
seiner Schrift gegen Malthus, jenen sophistischen Nationalökonomen, der in der


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schlimmer wirkt, als der gewöhnliche Egoismus. Fleetwood treibt in einem An¬
fall wahnsinniger Eifersucht seine Frau aus dem Hause ins Elend, und überläßt
sich dann den wildesten Ausbrüchen des verletzten Gefühls. Marie, sein Weib,
verfällt in partielle Verrücktheit, wird dann wieder ausgelassen lustig u. s. w., kurz,
ein Raffinement des Gefühls, wie es selbst die Erfindungen der neueren fran¬
zösischen Romanschreiber überbietet. Jean Paul hat sich in seinem Siebenkäs
einen ähnlichen Vorwurf gestellt, aber er hat seiue Kunst vorzugsweise in jenen
unbemerkbarer feinen Zügen entwickelt, die anch in krankhaften Verhältnissen ein
gewisses Interesse hervorrufen, während Godwin immer im Pathos höchster Lei¬
denschaft verbleibt. Abgesehen von diesen Uebelständen, die mit dem Inhalt un¬
zertrennlich sind, ist anch in der Form Vieles verfehlt. Es herrscht eine schlechte
Oekonomie, dem Zufall ist zu viel überlassen, und die episodischen Schilderungen
von den einsamen Studien, von den abenteuerlichen Studentengeschichten, von
den Ausschweifungen des Pariser Lebens, von den schweizer Landschaften ze. ab-
sorbiren das Interesse, welches eigentlich der Hauptsache zu Theil werden sollte.
Trotzdem fesselt der Roman die Phantasie, und die dunklen Partien desselben
sind mit der Kraft eines Salvator Rosa gezeichnet. — Die späteren Ro¬
mane: NaQäevMe (1817) und Clauässl^ (1830) fallen wesentlich in dieselbe
Kategorie.

Auch die übrigen Schriften Godwin's tragen diesen Charakter. Am meisten
charakteristisch ist sein Leben Chancer's, 1803. Es ist jene pseudophilosophische
Manier der Geschichtschreibung, an die wir in Deutschland nur zu sehr ge¬
wöhnt sind, die sich aus Vermuthungen, Antithesen und Vergleichen zusammensetzt,
und anstatt dem Gegenstand gerecht zu werden, nur den Geist des Autors zu
entwickeln sucht. Er spricht mit einer ziemlichen Geringschätzung von der ältern
Kritik, und stellt es als seine Aufgabe dar, nicht nur den Geist der Philosophie,
sondern anch die Bilder der Einbildungskrast in das dürre Feld der Geschicht¬
schreibung einzuführen. Von seinem wunderlichen Styl, der freilich in neuerer
Zeit durch Carlyle unendlich übertroffen ist, gebe ich hier ein Beispiel. Er spricht
von den Pfeilern der gothischen Architektur, und meint, sie geben uns eine Idee
der Schwäche und Hinfälligkeit, und erinnern uns beinahe an das demüthige
Werkzeug, durch welches der englische und deutsche Bauer den Rauch des indi¬
schen Krautes einschlürft (8uK^e8tinA- an lava krank^ cruel iilmost rernmäinx
"8 ot' tlo dumdls vekiele tdrvugli ^ock -rü LuKl^d ana Kerman rü8tie
midies Nie kam<Z8 ok tuo lnäwn revu). Neben diesen schwülstigen Ausdrücken
kommt dann wieder eine Reihe kurzer Sätze, in denen die unbedeutendsten Be¬
merkungen durch die Form des Lapidarstyls zu einer unberechtigten Wichtigkeit
heraufgeschraubt werden. Dasselbe gilt von seiner „Geschichte des englischen Ge¬
meinwesens", 1824—28, von seinem „Versuch über die Begräbnisse", 1808, von
seiner Schrift gegen Malthus, jenen sophistischen Nationalökonomen, der in der


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[0347] schlimmer wirkt, als der gewöhnliche Egoismus. Fleetwood treibt in einem An¬ fall wahnsinniger Eifersucht seine Frau aus dem Hause ins Elend, und überläßt sich dann den wildesten Ausbrüchen des verletzten Gefühls. Marie, sein Weib, verfällt in partielle Verrücktheit, wird dann wieder ausgelassen lustig u. s. w., kurz, ein Raffinement des Gefühls, wie es selbst die Erfindungen der neueren fran¬ zösischen Romanschreiber überbietet. Jean Paul hat sich in seinem Siebenkäs einen ähnlichen Vorwurf gestellt, aber er hat seiue Kunst vorzugsweise in jenen unbemerkbarer feinen Zügen entwickelt, die anch in krankhaften Verhältnissen ein gewisses Interesse hervorrufen, während Godwin immer im Pathos höchster Lei¬ denschaft verbleibt. Abgesehen von diesen Uebelständen, die mit dem Inhalt un¬ zertrennlich sind, ist anch in der Form Vieles verfehlt. Es herrscht eine schlechte Oekonomie, dem Zufall ist zu viel überlassen, und die episodischen Schilderungen von den einsamen Studien, von den abenteuerlichen Studentengeschichten, von den Ausschweifungen des Pariser Lebens, von den schweizer Landschaften ze. ab- sorbiren das Interesse, welches eigentlich der Hauptsache zu Theil werden sollte. Trotzdem fesselt der Roman die Phantasie, und die dunklen Partien desselben sind mit der Kraft eines Salvator Rosa gezeichnet. — Die späteren Ro¬ mane: NaQäevMe (1817) und Clauässl^ (1830) fallen wesentlich in dieselbe Kategorie. Auch die übrigen Schriften Godwin's tragen diesen Charakter. Am meisten charakteristisch ist sein Leben Chancer's, 1803. Es ist jene pseudophilosophische Manier der Geschichtschreibung, an die wir in Deutschland nur zu sehr ge¬ wöhnt sind, die sich aus Vermuthungen, Antithesen und Vergleichen zusammensetzt, und anstatt dem Gegenstand gerecht zu werden, nur den Geist des Autors zu entwickeln sucht. Er spricht mit einer ziemlichen Geringschätzung von der ältern Kritik, und stellt es als seine Aufgabe dar, nicht nur den Geist der Philosophie, sondern anch die Bilder der Einbildungskrast in das dürre Feld der Geschicht¬ schreibung einzuführen. Von seinem wunderlichen Styl, der freilich in neuerer Zeit durch Carlyle unendlich übertroffen ist, gebe ich hier ein Beispiel. Er spricht von den Pfeilern der gothischen Architektur, und meint, sie geben uns eine Idee der Schwäche und Hinfälligkeit, und erinnern uns beinahe an das demüthige Werkzeug, durch welches der englische und deutsche Bauer den Rauch des indi¬ schen Krautes einschlürft (8uK^e8tinA- an lava krank^ cruel iilmost rernmäinx "8 ot' tlo dumdls vekiele tdrvugli ^ock -rü LuKl^d ana Kerman rü8tie midies Nie kam<Z8 ok tuo lnäwn revu). Neben diesen schwülstigen Ausdrücken kommt dann wieder eine Reihe kurzer Sätze, in denen die unbedeutendsten Be¬ merkungen durch die Form des Lapidarstyls zu einer unberechtigten Wichtigkeit heraufgeschraubt werden. Dasselbe gilt von seiner „Geschichte des englischen Ge¬ meinwesens", 1824—28, von seinem „Versuch über die Begräbnisse", 1808, von seiner Schrift gegen Malthus, jenen sophistischen Nationalökonomen, der in der Grenzboten. I. 4 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/347>, abgerufen am 11.05.2024.