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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Es kommt dazu eine Voealisation, die der alten Schule angehört und die unter unsren
modernen Künstlern nicht mehr ihres Gleichen findet. Dasselbe ist der Fall mit ihrem
colorirten Gesang. Sie spielt mit den unerhörtesten Schwierigkeiten mit einer Leichtig¬
keit und Anmuth, die selbst die Garcia weit hinter sich läßt. Der Umfang ihrer
Stimme geht nicht über das Gewöhnliche hinaus, und in der höhern Lage wendet sie
im klaren Verständniß ihrer Mittel zuweilen ein Maß an, das nicht vollständig der
Intention des Componisten gerecht wird. Sie thut daher ganz recht, wenn sie die eigent¬
lich leidenschaftlichen Partien bei Seite läßt; eben so diejenigen Rollen, die ein Aus¬
druck für tiefere Gcmüthsempsindungen sind. Ihre Stimme ist zwar durchweg schön
und edel, aber jene Poesie des Tons, die schon durch ihren sinnlichen Gehalt das Herz
ergreift und bewegt, kehrt doch in der zweiten Jugend nicht wieder. In dieser Be¬
ziehung wäre es thöricht, sie mit Jenny Lind vergleichen zu wollen.

Leipzig hat sie in neun Vorstellungen gehört. Sie ist in der Nachtwandlerin,-
in Figaro's Hochzeit, zwei Mal in der Regimentstochtcr, zwei Mal in der Martha.
zwei Mal im Barbier aufgetreten, und hat außerdem im Gewandhausconcert eine Arie
aus der Semiramis, eine von Händel und eine Scene aus der Iphigenie in Tauris
gesungen; in der letztem, namentlich in dem Recitativ, hat sie gezeigt, wie tief ihr Ver¬
ständniß für classische. Musik ist. Das größere Publicum ist natürlich am meisten von
solchen Partien angesprochen worden, die ihm ohnehin mundgerecht sind, namentlich von
der Martha und der NegimcntStochter; Alles in Allem genommen möchte ihre Leistung
im Barbier die vorzüglichste sein; am wenigsten dagegen paßte die naiv-sentimentale
Nachtwandlerin für sie. In diesem Gebiete war Jenny Lind die Herrscherin.

Diese zahlreichen Vorstellungen bei dreifach erhöhten Preisen sprechen dafür, daß
Leipzig doch noch einiges Gold "aus den Fingern der Kroaten gerettet" hat, wenn auch
die Umgegend bis weit hinaus ein nicht unbedeutendes Contingent gestellt hat, und wenn
uns selbst Berlin den einen Abend eine Anzahl Gäste schickte, die zwar der Erwartung
nicht völlig entsprach, aber doch immer ansehnlich genug war.

Henriette Sontag wird voraussichtlich eben so wie ihre Vorgängerin einen Triumph¬
zug durch die ganze gebildete Welt halten. Wenn sie ununterbrochen fort gesungen
hätte, so wäre es jetzt mit ihrer Stimme vorüber, und wir hätten die unerhörte Er¬
scheinung, daß eine Sängerin nach zwanzigjähriger Unterbrechung zum zweiten Male
gerechte Bewunderung erregte, nicht gehabt. Aber doch hat diese zweite Jugend etwas
Wehmüthiges; es ist doch nicht mehr der frische, naive Künstlerübcnnuth, nicht mehr der
unmittelbare Rausch des Erfolgs; Henriette Sontag ist doch immer nur zur Hälfte,
was ihr Name sagt, sie ist doch zugleich die Gräfin Rossi, die an die Formen einer
exclusiver Welt gewöhnt war und nun, um das Glück ihrer Familie wieder her¬
zustellen, der Menge Huldigungen abzwingen muß, die oft genug ihr Unbequemes
haben mögen.




Es kommt dazu eine Voealisation, die der alten Schule angehört und die unter unsren
modernen Künstlern nicht mehr ihres Gleichen findet. Dasselbe ist der Fall mit ihrem
colorirten Gesang. Sie spielt mit den unerhörtesten Schwierigkeiten mit einer Leichtig¬
keit und Anmuth, die selbst die Garcia weit hinter sich läßt. Der Umfang ihrer
Stimme geht nicht über das Gewöhnliche hinaus, und in der höhern Lage wendet sie
im klaren Verständniß ihrer Mittel zuweilen ein Maß an, das nicht vollständig der
Intention des Componisten gerecht wird. Sie thut daher ganz recht, wenn sie die eigent¬
lich leidenschaftlichen Partien bei Seite läßt; eben so diejenigen Rollen, die ein Aus¬
druck für tiefere Gcmüthsempsindungen sind. Ihre Stimme ist zwar durchweg schön
und edel, aber jene Poesie des Tons, die schon durch ihren sinnlichen Gehalt das Herz
ergreift und bewegt, kehrt doch in der zweiten Jugend nicht wieder. In dieser Be¬
ziehung wäre es thöricht, sie mit Jenny Lind vergleichen zu wollen.

Leipzig hat sie in neun Vorstellungen gehört. Sie ist in der Nachtwandlerin,-
in Figaro's Hochzeit, zwei Mal in der Regimentstochtcr, zwei Mal in der Martha.
zwei Mal im Barbier aufgetreten, und hat außerdem im Gewandhausconcert eine Arie
aus der Semiramis, eine von Händel und eine Scene aus der Iphigenie in Tauris
gesungen; in der letztem, namentlich in dem Recitativ, hat sie gezeigt, wie tief ihr Ver¬
ständniß für classische. Musik ist. Das größere Publicum ist natürlich am meisten von
solchen Partien angesprochen worden, die ihm ohnehin mundgerecht sind, namentlich von
der Martha und der NegimcntStochter; Alles in Allem genommen möchte ihre Leistung
im Barbier die vorzüglichste sein; am wenigsten dagegen paßte die naiv-sentimentale
Nachtwandlerin für sie. In diesem Gebiete war Jenny Lind die Herrscherin.

Diese zahlreichen Vorstellungen bei dreifach erhöhten Preisen sprechen dafür, daß
Leipzig doch noch einiges Gold „aus den Fingern der Kroaten gerettet" hat, wenn auch
die Umgegend bis weit hinaus ein nicht unbedeutendes Contingent gestellt hat, und wenn
uns selbst Berlin den einen Abend eine Anzahl Gäste schickte, die zwar der Erwartung
nicht völlig entsprach, aber doch immer ansehnlich genug war.

Henriette Sontag wird voraussichtlich eben so wie ihre Vorgängerin einen Triumph¬
zug durch die ganze gebildete Welt halten. Wenn sie ununterbrochen fort gesungen
hätte, so wäre es jetzt mit ihrer Stimme vorüber, und wir hätten die unerhörte Er¬
scheinung, daß eine Sängerin nach zwanzigjähriger Unterbrechung zum zweiten Male
gerechte Bewunderung erregte, nicht gehabt. Aber doch hat diese zweite Jugend etwas
Wehmüthiges; es ist doch nicht mehr der frische, naive Künstlerübcnnuth, nicht mehr der
unmittelbare Rausch des Erfolgs; Henriette Sontag ist doch immer nur zur Hälfte,
was ihr Name sagt, sie ist doch zugleich die Gräfin Rossi, die an die Formen einer
exclusiver Welt gewöhnt war und nun, um das Glück ihrer Familie wieder her¬
zustellen, der Menge Huldigungen abzwingen muß, die oft genug ihr Unbequemes
haben mögen.




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[0367] Es kommt dazu eine Voealisation, die der alten Schule angehört und die unter unsren modernen Künstlern nicht mehr ihres Gleichen findet. Dasselbe ist der Fall mit ihrem colorirten Gesang. Sie spielt mit den unerhörtesten Schwierigkeiten mit einer Leichtig¬ keit und Anmuth, die selbst die Garcia weit hinter sich läßt. Der Umfang ihrer Stimme geht nicht über das Gewöhnliche hinaus, und in der höhern Lage wendet sie im klaren Verständniß ihrer Mittel zuweilen ein Maß an, das nicht vollständig der Intention des Componisten gerecht wird. Sie thut daher ganz recht, wenn sie die eigent¬ lich leidenschaftlichen Partien bei Seite läßt; eben so diejenigen Rollen, die ein Aus¬ druck für tiefere Gcmüthsempsindungen sind. Ihre Stimme ist zwar durchweg schön und edel, aber jene Poesie des Tons, die schon durch ihren sinnlichen Gehalt das Herz ergreift und bewegt, kehrt doch in der zweiten Jugend nicht wieder. In dieser Be¬ ziehung wäre es thöricht, sie mit Jenny Lind vergleichen zu wollen. Leipzig hat sie in neun Vorstellungen gehört. Sie ist in der Nachtwandlerin,- in Figaro's Hochzeit, zwei Mal in der Regimentstochtcr, zwei Mal in der Martha. zwei Mal im Barbier aufgetreten, und hat außerdem im Gewandhausconcert eine Arie aus der Semiramis, eine von Händel und eine Scene aus der Iphigenie in Tauris gesungen; in der letztem, namentlich in dem Recitativ, hat sie gezeigt, wie tief ihr Ver¬ ständniß für classische. Musik ist. Das größere Publicum ist natürlich am meisten von solchen Partien angesprochen worden, die ihm ohnehin mundgerecht sind, namentlich von der Martha und der NegimcntStochter; Alles in Allem genommen möchte ihre Leistung im Barbier die vorzüglichste sein; am wenigsten dagegen paßte die naiv-sentimentale Nachtwandlerin für sie. In diesem Gebiete war Jenny Lind die Herrscherin. Diese zahlreichen Vorstellungen bei dreifach erhöhten Preisen sprechen dafür, daß Leipzig doch noch einiges Gold „aus den Fingern der Kroaten gerettet" hat, wenn auch die Umgegend bis weit hinaus ein nicht unbedeutendes Contingent gestellt hat, und wenn uns selbst Berlin den einen Abend eine Anzahl Gäste schickte, die zwar der Erwartung nicht völlig entsprach, aber doch immer ansehnlich genug war. Henriette Sontag wird voraussichtlich eben so wie ihre Vorgängerin einen Triumph¬ zug durch die ganze gebildete Welt halten. Wenn sie ununterbrochen fort gesungen hätte, so wäre es jetzt mit ihrer Stimme vorüber, und wir hätten die unerhörte Er¬ scheinung, daß eine Sängerin nach zwanzigjähriger Unterbrechung zum zweiten Male gerechte Bewunderung erregte, nicht gehabt. Aber doch hat diese zweite Jugend etwas Wehmüthiges; es ist doch nicht mehr der frische, naive Künstlerübcnnuth, nicht mehr der unmittelbare Rausch des Erfolgs; Henriette Sontag ist doch immer nur zur Hälfte, was ihr Name sagt, sie ist doch zugleich die Gräfin Rossi, die an die Formen einer exclusiver Welt gewöhnt war und nun, um das Glück ihrer Familie wieder her¬ zustellen, der Menge Huldigungen abzwingen muß, die oft genug ihr Unbequemes haben mögen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/367>, abgerufen am 12.05.2024.