Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

tionisten ausschieden. Auf diese Weise war am Schlüsse der letzten Session die
ministerielle Partei, obgleich noch die zahlreichste im Unterhause, doch zu einer
Minorität im ganzen Hause geworden, und die Verabschiedung Lord Palmerston's
hat seitdem ihren Anhang noch weiter vermindert und zum Sturz des Ministe¬
riums Russell geführt.

Diese numerische Schwäche ist aber nicht die größte Schwierigkeit, mit der
die Partei des abgetretenen Ministeriums zu kämpfen hat. Ihr Führer, Lord
John Russell, besitzt viele schätzbare und achtungswerthe Eigenschaften, und sein
alter Ruhm als Reformer ist noch nicht ganz von ihm gewichen; leider aber ist
er zu eifersüchtig auf den Alleinbesitz der Herrschaft, als daß er bedeutende, oder
nur vielversprechende Collegen lange in einflußreichen Stellen neben sich dulden
sollte. Diese Schwäche , ist auch der Grund von Lord, Palmerston's endlichem
Sturz. Die Spannung zwischen den beiden edlen Lords war längst vorhanden.
Vor zwei Jahren, als der Reformclub Lord Palmerston nach seinem großen par¬
lamentarischen Siege in der griechischen Angelegenheit ein Ehrenmahl gab, fielen
sehr deutliche Winke, daß der ehemalige Staatssecretair des Auswärtigen eines
höhern Platzes, als er damals einnahm, werth sei. Während der Minister¬
krisis zu Anfang der letzten Session hielt sich Lord Palmerston von den Ver¬
handlungen zur Verstärkung des Cabinets sorgfältig fern. Der Kampf zwischen
Lord John Russell und Lord Palmerston um das Uebergewicht im Cabinet hat
schon seit Jahren gedauert. Lord John hat lange Zeit den edlen Viscount
für, einen meuterischen Officier gehalten, und dieser den Premier sür einen un¬
fähigen Führer. In ihrem letzten Streite handelt es sich auch mehr um eine
Frage ministerieller Etikette, als um ein Princip, denn.Lord Russell hegte über
den französischen Staatsstreich im Grunde ganz dieselbe Ansicht, wie Lord Pal¬
merston. Das hohe Alter Lord Lansdowne's, der Eigensinn und die Unverträg¬
lichkeit Lord Grey's, die Kränklichkeit und die conservativen Tendenzen Sir Ch.
Grey's und die finanzielle Unfähigkeit Sir C. Wood's, des ehemaligen Kanzlers
der Schatzkammer, sind andere Ursachen der innern Schwäche der Whigpartei
und des aus ihrem Schooße hervorgegangenen frühern Ministeriums. Zu dieser
Schwäche, welche von den eigenthümlichen Persönlichkeiten der Partei her¬
rührt, kommt noch eine andere, welche die Folge ihrer politischen Grundsätze
und ihrer politischen Praxis ist. Die Whigs rühmen sich zwar nicht mit Un¬
recht, eine liberale Partei zu sein, und in dem parlamentarischen Kampfe um eine
Erweiterung der Freiheiten des englischen Volks lange und ausdauernd in erster
Reihe gekämpst zu haben -- aber sie können nie vergessen, daß sie eine Oli¬
garchie sind, so gut wie die Tones. Sie wollen wol für das Volk, aber nicht
durch das Volk regieren, und daher der halbe Charakter aller ihrer Maßre¬
geln. Selbst bei der Reformbill wußten sie es so einzurichten, daß, während
die verfallenen Wahlflecken der Tories mitleidslos geopfert wurden, die Whig-


Grenzboten. I. 64

tionisten ausschieden. Auf diese Weise war am Schlüsse der letzten Session die
ministerielle Partei, obgleich noch die zahlreichste im Unterhause, doch zu einer
Minorität im ganzen Hause geworden, und die Verabschiedung Lord Palmerston's
hat seitdem ihren Anhang noch weiter vermindert und zum Sturz des Ministe¬
riums Russell geführt.

Diese numerische Schwäche ist aber nicht die größte Schwierigkeit, mit der
die Partei des abgetretenen Ministeriums zu kämpfen hat. Ihr Führer, Lord
John Russell, besitzt viele schätzbare und achtungswerthe Eigenschaften, und sein
alter Ruhm als Reformer ist noch nicht ganz von ihm gewichen; leider aber ist
er zu eifersüchtig auf den Alleinbesitz der Herrschaft, als daß er bedeutende, oder
nur vielversprechende Collegen lange in einflußreichen Stellen neben sich dulden
sollte. Diese Schwäche , ist auch der Grund von Lord, Palmerston's endlichem
Sturz. Die Spannung zwischen den beiden edlen Lords war längst vorhanden.
Vor zwei Jahren, als der Reformclub Lord Palmerston nach seinem großen par¬
lamentarischen Siege in der griechischen Angelegenheit ein Ehrenmahl gab, fielen
sehr deutliche Winke, daß der ehemalige Staatssecretair des Auswärtigen eines
höhern Platzes, als er damals einnahm, werth sei. Während der Minister¬
krisis zu Anfang der letzten Session hielt sich Lord Palmerston von den Ver¬
handlungen zur Verstärkung des Cabinets sorgfältig fern. Der Kampf zwischen
Lord John Russell und Lord Palmerston um das Uebergewicht im Cabinet hat
schon seit Jahren gedauert. Lord John hat lange Zeit den edlen Viscount
für, einen meuterischen Officier gehalten, und dieser den Premier sür einen un¬
fähigen Führer. In ihrem letzten Streite handelt es sich auch mehr um eine
Frage ministerieller Etikette, als um ein Princip, denn.Lord Russell hegte über
den französischen Staatsstreich im Grunde ganz dieselbe Ansicht, wie Lord Pal¬
merston. Das hohe Alter Lord Lansdowne's, der Eigensinn und die Unverträg¬
lichkeit Lord Grey's, die Kränklichkeit und die conservativen Tendenzen Sir Ch.
Grey's und die finanzielle Unfähigkeit Sir C. Wood's, des ehemaligen Kanzlers
der Schatzkammer, sind andere Ursachen der innern Schwäche der Whigpartei
und des aus ihrem Schooße hervorgegangenen frühern Ministeriums. Zu dieser
Schwäche, welche von den eigenthümlichen Persönlichkeiten der Partei her¬
rührt, kommt noch eine andere, welche die Folge ihrer politischen Grundsätze
und ihrer politischen Praxis ist. Die Whigs rühmen sich zwar nicht mit Un¬
recht, eine liberale Partei zu sein, und in dem parlamentarischen Kampfe um eine
Erweiterung der Freiheiten des englischen Volks lange und ausdauernd in erster
Reihe gekämpst zu haben — aber sie können nie vergessen, daß sie eine Oli¬
garchie sind, so gut wie die Tones. Sie wollen wol für das Volk, aber nicht
durch das Volk regieren, und daher der halbe Charakter aller ihrer Maßre¬
geln. Selbst bei der Reformbill wußten sie es so einzurichten, daß, während
die verfallenen Wahlflecken der Tories mitleidslos geopfert wurden, die Whig-


Grenzboten. I. 64
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93880"/>
              <p xml:id="ID_1426" prev="#ID_1425"> tionisten ausschieden. Auf diese Weise war am Schlüsse der letzten Session die<lb/>
ministerielle Partei, obgleich noch die zahlreichste im Unterhause, doch zu einer<lb/>
Minorität im ganzen Hause geworden, und die Verabschiedung Lord Palmerston's<lb/>
hat seitdem ihren Anhang noch weiter vermindert und zum Sturz des Ministe¬<lb/>
riums Russell geführt.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1427" next="#ID_1428"> Diese numerische Schwäche ist aber nicht die größte Schwierigkeit, mit der<lb/>
die Partei des abgetretenen Ministeriums zu kämpfen hat. Ihr Führer, Lord<lb/>
John Russell, besitzt viele schätzbare und achtungswerthe Eigenschaften, und sein<lb/>
alter Ruhm als Reformer ist noch nicht ganz von ihm gewichen; leider aber ist<lb/>
er zu eifersüchtig auf den Alleinbesitz der Herrschaft, als daß er bedeutende, oder<lb/>
nur vielversprechende Collegen lange in einflußreichen Stellen neben sich dulden<lb/>
sollte. Diese Schwäche , ist auch der Grund von Lord, Palmerston's endlichem<lb/>
Sturz. Die Spannung zwischen den beiden edlen Lords war längst vorhanden.<lb/>
Vor zwei Jahren, als der Reformclub Lord Palmerston nach seinem großen par¬<lb/>
lamentarischen Siege in der griechischen Angelegenheit ein Ehrenmahl gab, fielen<lb/>
sehr deutliche Winke, daß der ehemalige Staatssecretair des Auswärtigen eines<lb/>
höhern Platzes, als er damals einnahm, werth sei. Während der Minister¬<lb/>
krisis zu Anfang der letzten Session hielt sich Lord Palmerston von den Ver¬<lb/>
handlungen zur Verstärkung des Cabinets sorgfältig fern. Der Kampf zwischen<lb/>
Lord John Russell und Lord Palmerston um das Uebergewicht im Cabinet hat<lb/>
schon seit Jahren gedauert. Lord John hat lange Zeit den edlen Viscount<lb/>
für, einen meuterischen Officier gehalten, und dieser den Premier sür einen un¬<lb/>
fähigen Führer. In ihrem letzten Streite handelt es sich auch mehr um eine<lb/>
Frage ministerieller Etikette, als um ein Princip, denn.Lord Russell hegte über<lb/>
den französischen Staatsstreich im Grunde ganz dieselbe Ansicht, wie Lord Pal¬<lb/>
merston. Das hohe Alter Lord Lansdowne's, der Eigensinn und die Unverträg¬<lb/>
lichkeit Lord Grey's, die Kränklichkeit und die conservativen Tendenzen Sir Ch.<lb/>
Grey's und die finanzielle Unfähigkeit Sir C. Wood's, des ehemaligen Kanzlers<lb/>
der Schatzkammer, sind andere Ursachen der innern Schwäche der Whigpartei<lb/>
und des aus ihrem Schooße hervorgegangenen frühern Ministeriums. Zu dieser<lb/>
Schwäche, welche von den eigenthümlichen Persönlichkeiten der Partei her¬<lb/>
rührt, kommt noch eine andere, welche die Folge ihrer politischen Grundsätze<lb/>
und ihrer politischen Praxis ist. Die Whigs rühmen sich zwar nicht mit Un¬<lb/>
recht, eine liberale Partei zu sein, und in dem parlamentarischen Kampfe um eine<lb/>
Erweiterung der Freiheiten des englischen Volks lange und ausdauernd in erster<lb/>
Reihe gekämpst zu haben &#x2014; aber sie können nie vergessen, daß sie eine Oli¬<lb/>
garchie sind, so gut wie die Tones. Sie wollen wol für das Volk, aber nicht<lb/>
durch das Volk regieren, und daher der halbe Charakter aller ihrer Maßre¬<lb/>
geln. Selbst bei der Reformbill wußten sie es so einzurichten, daß, während<lb/>
die verfallenen Wahlflecken der Tories mitleidslos geopfert wurden, die Whig-</p><lb/>
              <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. I. 64</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0515] tionisten ausschieden. Auf diese Weise war am Schlüsse der letzten Session die ministerielle Partei, obgleich noch die zahlreichste im Unterhause, doch zu einer Minorität im ganzen Hause geworden, und die Verabschiedung Lord Palmerston's hat seitdem ihren Anhang noch weiter vermindert und zum Sturz des Ministe¬ riums Russell geführt. Diese numerische Schwäche ist aber nicht die größte Schwierigkeit, mit der die Partei des abgetretenen Ministeriums zu kämpfen hat. Ihr Führer, Lord John Russell, besitzt viele schätzbare und achtungswerthe Eigenschaften, und sein alter Ruhm als Reformer ist noch nicht ganz von ihm gewichen; leider aber ist er zu eifersüchtig auf den Alleinbesitz der Herrschaft, als daß er bedeutende, oder nur vielversprechende Collegen lange in einflußreichen Stellen neben sich dulden sollte. Diese Schwäche , ist auch der Grund von Lord, Palmerston's endlichem Sturz. Die Spannung zwischen den beiden edlen Lords war längst vorhanden. Vor zwei Jahren, als der Reformclub Lord Palmerston nach seinem großen par¬ lamentarischen Siege in der griechischen Angelegenheit ein Ehrenmahl gab, fielen sehr deutliche Winke, daß der ehemalige Staatssecretair des Auswärtigen eines höhern Platzes, als er damals einnahm, werth sei. Während der Minister¬ krisis zu Anfang der letzten Session hielt sich Lord Palmerston von den Ver¬ handlungen zur Verstärkung des Cabinets sorgfältig fern. Der Kampf zwischen Lord John Russell und Lord Palmerston um das Uebergewicht im Cabinet hat schon seit Jahren gedauert. Lord John hat lange Zeit den edlen Viscount für, einen meuterischen Officier gehalten, und dieser den Premier sür einen un¬ fähigen Führer. In ihrem letzten Streite handelt es sich auch mehr um eine Frage ministerieller Etikette, als um ein Princip, denn.Lord Russell hegte über den französischen Staatsstreich im Grunde ganz dieselbe Ansicht, wie Lord Pal¬ merston. Das hohe Alter Lord Lansdowne's, der Eigensinn und die Unverträg¬ lichkeit Lord Grey's, die Kränklichkeit und die conservativen Tendenzen Sir Ch. Grey's und die finanzielle Unfähigkeit Sir C. Wood's, des ehemaligen Kanzlers der Schatzkammer, sind andere Ursachen der innern Schwäche der Whigpartei und des aus ihrem Schooße hervorgegangenen frühern Ministeriums. Zu dieser Schwäche, welche von den eigenthümlichen Persönlichkeiten der Partei her¬ rührt, kommt noch eine andere, welche die Folge ihrer politischen Grundsätze und ihrer politischen Praxis ist. Die Whigs rühmen sich zwar nicht mit Un¬ recht, eine liberale Partei zu sein, und in dem parlamentarischen Kampfe um eine Erweiterung der Freiheiten des englischen Volks lange und ausdauernd in erster Reihe gekämpst zu haben — aber sie können nie vergessen, daß sie eine Oli¬ garchie sind, so gut wie die Tones. Sie wollen wol für das Volk, aber nicht durch das Volk regieren, und daher der halbe Charakter aller ihrer Maßre¬ geln. Selbst bei der Reformbill wußten sie es so einzurichten, daß, während die verfallenen Wahlflecken der Tories mitleidslos geopfert wurden, die Whig- Grenzboten. I. 64

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/515
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/515>, abgerufen am 11.05.2024.