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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Uebrigens würde.diese Deutlichkeit noch sehr verstärkt werden, wenn der
Maler uns nicht eigensinnig fortwährend ans das Gesicht der Königin hinwiese,
welches doch nur die eine Seite der Situation versinnlicht; die' andere Seite,
nämlich die Empfindungen der Menge, ist mit einer wunderbaren Kunst ausge¬
führt und würde, wenn sie sich dem ersten allgemeinen Anblick deutlich darböte,
die Situation vollkommen befriedigend abrunden. Aber da durch die Beleuchtung
das ganze Gemälde in zwei ungleiche Theile geschieden ist, so sieht man immer
nur die eine Seite, und der Totaleindruck geht dadurch verloren. -- Das darf
uns indessen nicht abhalten, auch diese Seite näher ins Auge zu fassen. -- Von
den Richtern selbst ist in ihrer trüben röthl'chen Atmosphäre nicht viel zu sehen,
außer dem allgemeinen Farbeneindruck; dagegen sind schon die begleitenden Scher-'
gen sehr interessante Physiognomien. Der Officier mit dem strengen, wilden,
aber nicht unedlen Ausdruck des demokratischen Fanatismus und der Gardist mit"
der stumpfen Gleichgiltigkeit, die rohe Gemüther in einer solchen Zeit charakte-
risirt. Er ist an Hinrichtungen gewöhnt, und betrachtet seinen Gang als reine
Geschäftssache. Noch viel musterhafter aber sind die Figuren auf der Zuschauer-
tribuue. Abgesehen von dem wüsten Pöbel, der im Hintergrunde durch geballte
Fäuste, wilde Blicke und verzerrte Gesichter sich eigentlich uur symbolisch geltend
macht, sind es namentlich drei Personen, die unsre Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen. Ein junges schönes Weib mit einer Thräne im Auge, der man es
ansieht, daß gerade der Augenblick sie hervorgerufen hat, daß sie von dem
vielleicht früher in dem allgemeinen Fanatismus unterdrückten Gefühl der
Menschlichkeit wie dnrch eine plötzliche Inspiration, die alle Züge des Ge¬
sichts verklärt, aus den Tiefen des Herzens heraufbeschworen wird. Wäre
dieses Weib ans dem dunkeln Hintergrunde hervorgerufen und zu einer
ebenbürtigen Stellung in der Gruppe gelaugt, so hätte das einen herrlichen
Gegensatz gegen die stolze majestätische Resignation der Königin gebildet. Neben
ihr die zahnlose Megäre, die Mit einer Art von Entsetzen ans das seltsame Unge¬
heuer, das es wagte, ein Diadem zu tragen, einen scheuen Seitenblick des Hasses
wirft und der neugierige Straßenjunge, der durch den Ernst des Tribunals in
seinen Possen nicht gestört wird. Das Alles sind prächtige Köpfe, und man muß
es uur bedauern, daß der Maler es dem Zuschauer so erschwert hat, sie zu sehen.

Das ganze Gemälde, unbefriedigend in seiner künstlerischen Totalität, aber
unendlich reizend und anregend nach allen Seiten hin, erinnert uns an das We¬
sen der neufranzösischen Kunst überhaupt, an die dämonische Leidenschaft der Rachel
Mit ihrem harten Contrast gegen die etwas reflectirte Ruhe ihrer gewöhnlichen
Stellung und gegen ihre unbedeutende Umgebung, an die grellen, unvermittelter
Schlaglichter in der neuesten Opermusik, an Victor Hugo und seine Schule, ja
an die gesammte französische Nation, die eben so wie ihre Heldinnen und Mär¬
tyrer im Augenblick feurig auflodert und sich dann ans die Majestät der Nesig-


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Uebrigens würde.diese Deutlichkeit noch sehr verstärkt werden, wenn der
Maler uns nicht eigensinnig fortwährend ans das Gesicht der Königin hinwiese,
welches doch nur die eine Seite der Situation versinnlicht; die' andere Seite,
nämlich die Empfindungen der Menge, ist mit einer wunderbaren Kunst ausge¬
führt und würde, wenn sie sich dem ersten allgemeinen Anblick deutlich darböte,
die Situation vollkommen befriedigend abrunden. Aber da durch die Beleuchtung
das ganze Gemälde in zwei ungleiche Theile geschieden ist, so sieht man immer
nur die eine Seite, und der Totaleindruck geht dadurch verloren. — Das darf
uns indessen nicht abhalten, auch diese Seite näher ins Auge zu fassen. — Von
den Richtern selbst ist in ihrer trüben röthl'chen Atmosphäre nicht viel zu sehen,
außer dem allgemeinen Farbeneindruck; dagegen sind schon die begleitenden Scher-'
gen sehr interessante Physiognomien. Der Officier mit dem strengen, wilden,
aber nicht unedlen Ausdruck des demokratischen Fanatismus und der Gardist mit"
der stumpfen Gleichgiltigkeit, die rohe Gemüther in einer solchen Zeit charakte-
risirt. Er ist an Hinrichtungen gewöhnt, und betrachtet seinen Gang als reine
Geschäftssache. Noch viel musterhafter aber sind die Figuren auf der Zuschauer-
tribuue. Abgesehen von dem wüsten Pöbel, der im Hintergrunde durch geballte
Fäuste, wilde Blicke und verzerrte Gesichter sich eigentlich uur symbolisch geltend
macht, sind es namentlich drei Personen, die unsre Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen. Ein junges schönes Weib mit einer Thräne im Auge, der man es
ansieht, daß gerade der Augenblick sie hervorgerufen hat, daß sie von dem
vielleicht früher in dem allgemeinen Fanatismus unterdrückten Gefühl der
Menschlichkeit wie dnrch eine plötzliche Inspiration, die alle Züge des Ge¬
sichts verklärt, aus den Tiefen des Herzens heraufbeschworen wird. Wäre
dieses Weib ans dem dunkeln Hintergrunde hervorgerufen und zu einer
ebenbürtigen Stellung in der Gruppe gelaugt, so hätte das einen herrlichen
Gegensatz gegen die stolze majestätische Resignation der Königin gebildet. Neben
ihr die zahnlose Megäre, die Mit einer Art von Entsetzen ans das seltsame Unge¬
heuer, das es wagte, ein Diadem zu tragen, einen scheuen Seitenblick des Hasses
wirft und der neugierige Straßenjunge, der durch den Ernst des Tribunals in
seinen Possen nicht gestört wird. Das Alles sind prächtige Köpfe, und man muß
es uur bedauern, daß der Maler es dem Zuschauer so erschwert hat, sie zu sehen.

Das ganze Gemälde, unbefriedigend in seiner künstlerischen Totalität, aber
unendlich reizend und anregend nach allen Seiten hin, erinnert uns an das We¬
sen der neufranzösischen Kunst überhaupt, an die dämonische Leidenschaft der Rachel
Mit ihrem harten Contrast gegen die etwas reflectirte Ruhe ihrer gewöhnlichen
Stellung und gegen ihre unbedeutende Umgebung, an die grellen, unvermittelter
Schlaglichter in der neuesten Opermusik, an Victor Hugo und seine Schule, ja
an die gesammte französische Nation, die eben so wie ihre Heldinnen und Mär¬
tyrer im Augenblick feurig auflodert und sich dann ans die Majestät der Nesig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/159>, abgerufen am 19.05.2024.