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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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die Scene gerade auf dieser Stufe der Gefühlsentwickelung an ihrem richtigen
Platz. Wir wollen diese Methode hier nicht vertheidigen, da nach unsrer Ansicht
der Hamlet überhaupt über die Grenzen der dramatischen Kunst hinausgeht; wir
führen sie nur an, um auf die Intentionen des Dichters aufmerksam zu machen.
Ueber die Kategorien des abstracten Verstandes, über Raum und Zeit verfügt'
der Dichter mit souverainer Willkür. In seinem Othello z. B. kann man Punkt für
Punkt nachweisen, daß die Ermordung der Desdemona in der zweiten Nacht nach
der Ankunft des Othello auf Cypern erfolgt; eben so kann man aber auch nach¬
weisen, daß die. in diesem Zeitraum enthaltenen Begebenheiten einen Umfang von
beinahe einem Jahr voraussetzen. Shakespeare hat diese Freiheit in Beziehung
auf die Zeit mit dem vollsten Bewußtsein ausgeübt. Eben so durchschauert uns
im Macbeth während des Mordes das Gefühl einer unheimlichen Stille; später,
wo der Dichter eine andere Stimmung braucht, kommt es ihm gar nicht darauf
an, in dieselbe Nacht einen wahren Höllenlärm zu verlegen, in welchem alle Ele¬
mente losgelassen wider einander toben.

Das Maß der poetischen Realität fällt also nicht mit dem Maß der gewöhn¬
lichen Realität zusammen. Der Begriff der Realität, d. h. der vollständigen
Durchdringung des Geistigen und Materiellen, wird aber dadurch nicht aufgehoben.
Nur aus dieser Jueiuanderbildnng geht das echte Kunstwerk hervor, und die
größten Versündigungen in der Geschichte der Poesie lassen sich auf eine Aus¬
weichung nach der einen oder nach der andern Seite hin zurückführen. Wir
haben auf der einen Seite den in der Luft schwebenden Spiritualismus,, den
Aufbau einer snpranaturalistischen Welt, auf den die irdischen Dinge keine Be¬
ziehung haben, ein abstractes Geisterthnm, das sich in der mittelalterlichen Mystik
mit einer gewissen Kraft und Innigkeit, in der modernen Sentimentalität dagegen
auf die sieche, urkräftige Weise, die ihr eigentlich angemessen ist, ausspricht.
Denn unter Sentimentalität versteht man nichts Anderes, als in der Luft schwe¬
lende Seelenzustände, Empfindungen ohne Gegenstand. Wir haben aus der an¬
dern Seite jenen Materialismus, der mit der frivolsten Verneinung alles geistigen
Inhalts auf weiter nichts ausgeht, als Farben, Gestalten und Bewegungen hervor-
zubringen, der mit pantheistischer Willkür den Menschen eben so behandelt, wie
den Stein, das Element, die Pflanze: ein Materialismus, der in der bildenden
Kunst noch zu begreisen und zu entschuldigen ist, weil diese mit rein sinnlichen
Mitteln operirt, der aber in der Poesie zu den gräulichsten Mißgeburten führt.
Nach beiden Seiten hin hat sich die Romantik verirrt, und Novalis und Victor
Hugo, einen so vollständigen Gegensatz sie dem Anschein nach bilden, haben das
Gemeinsame, daß sie Ideal und Wirklichkeit von einander trennen, und da diese
Verirrung sich nicht nur auf alle Zweige der Literatur, sondern auf das ganze
Leben ausgedehnt hat, so kann nicht häufig genug daran erinnert werden, daß


die Scene gerade auf dieser Stufe der Gefühlsentwickelung an ihrem richtigen
Platz. Wir wollen diese Methode hier nicht vertheidigen, da nach unsrer Ansicht
der Hamlet überhaupt über die Grenzen der dramatischen Kunst hinausgeht; wir
führen sie nur an, um auf die Intentionen des Dichters aufmerksam zu machen.
Ueber die Kategorien des abstracten Verstandes, über Raum und Zeit verfügt'
der Dichter mit souverainer Willkür. In seinem Othello z. B. kann man Punkt für
Punkt nachweisen, daß die Ermordung der Desdemona in der zweiten Nacht nach
der Ankunft des Othello auf Cypern erfolgt; eben so kann man aber auch nach¬
weisen, daß die. in diesem Zeitraum enthaltenen Begebenheiten einen Umfang von
beinahe einem Jahr voraussetzen. Shakespeare hat diese Freiheit in Beziehung
auf die Zeit mit dem vollsten Bewußtsein ausgeübt. Eben so durchschauert uns
im Macbeth während des Mordes das Gefühl einer unheimlichen Stille; später,
wo der Dichter eine andere Stimmung braucht, kommt es ihm gar nicht darauf
an, in dieselbe Nacht einen wahren Höllenlärm zu verlegen, in welchem alle Ele¬
mente losgelassen wider einander toben.

Das Maß der poetischen Realität fällt also nicht mit dem Maß der gewöhn¬
lichen Realität zusammen. Der Begriff der Realität, d. h. der vollständigen
Durchdringung des Geistigen und Materiellen, wird aber dadurch nicht aufgehoben.
Nur aus dieser Jueiuanderbildnng geht das echte Kunstwerk hervor, und die
größten Versündigungen in der Geschichte der Poesie lassen sich auf eine Aus¬
weichung nach der einen oder nach der andern Seite hin zurückführen. Wir
haben auf der einen Seite den in der Luft schwebenden Spiritualismus,, den
Aufbau einer snpranaturalistischen Welt, auf den die irdischen Dinge keine Be¬
ziehung haben, ein abstractes Geisterthnm, das sich in der mittelalterlichen Mystik
mit einer gewissen Kraft und Innigkeit, in der modernen Sentimentalität dagegen
auf die sieche, urkräftige Weise, die ihr eigentlich angemessen ist, ausspricht.
Denn unter Sentimentalität versteht man nichts Anderes, als in der Luft schwe¬
lende Seelenzustände, Empfindungen ohne Gegenstand. Wir haben aus der an¬
dern Seite jenen Materialismus, der mit der frivolsten Verneinung alles geistigen
Inhalts auf weiter nichts ausgeht, als Farben, Gestalten und Bewegungen hervor-
zubringen, der mit pantheistischer Willkür den Menschen eben so behandelt, wie
den Stein, das Element, die Pflanze: ein Materialismus, der in der bildenden
Kunst noch zu begreisen und zu entschuldigen ist, weil diese mit rein sinnlichen
Mitteln operirt, der aber in der Poesie zu den gräulichsten Mißgeburten führt.
Nach beiden Seiten hin hat sich die Romantik verirrt, und Novalis und Victor
Hugo, einen so vollständigen Gegensatz sie dem Anschein nach bilden, haben das
Gemeinsame, daß sie Ideal und Wirklichkeit von einander trennen, und da diese
Verirrung sich nicht nur auf alle Zweige der Literatur, sondern auf das ganze
Leben ausgedehnt hat, so kann nicht häufig genug daran erinnert werden, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/422>, abgerufen am 19.05.2024.