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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Esmeralda dazu kommt, init dem abstracten Begriff der Zerstörung in Parallele
gestellt zu werden, begreift man vollends nicht. -- Unpassend ist auch ein Zug,
den Gottschall bei dem Morde Marat's hinzudichtet. Er läßt ihn nämlich bei
dem Anblick der Charlotte Corday von sinnlicher Brunst ergriffen werden. Wenn
man historische Charaktere schildern will, so muß man sie auch historisch schildern. --
Ganz in's Wüste verliert sich die Bildersprache in dem letzten Theil. Noch lange
bevor Marie wahnsinnig wird, hält sie einen Monolog, in dem sie die Schreck¬
nisse der Weltgeschichte zusammenfaßt und dann die Frage aufstellt: "Wo schläft
denn Gott, nachdem er diese Welt zum Spiel wie eine bunte Seifenblase aus
thönerner Pfeife blies?" Aber das klarste Bild über die Art und Weise der
Ideenassociation gieb't folgende Stelle. -- Marie tritt an das Paradebett der
Geschichte:


Den Schleier reiß' ich von den bleichen Zügen,
Die Tücher reiß' ich von den mürben Leibern,
Und all die alten Wunden bluten frisch!
Das ist das Kegelspiel der Weltgeschichte;
Das sind die Neune, die der Herr geschoben!
Ist's nicht genug des Spiels, ihr blut'gen Opfer?
Wir nehmen selbst die Kugel jetzt zur Hand,
Im eignen Spiele gilt der eigne Wurf!
Der Arm ist stark -- Gold rolle seine Welten,
Wir selber rollen unsers Glückes Kugel'!
Um's Haupt der Wolfsschlucht Sturm und Wcttcrbraus,
Wo eine losgclass'ne Hölle jauchzt,
Wir rufen nicht: Hilf, Gott! Hilf, Samiel.
Die Todeskugel gießen wir allein,
Ein Freischütz ist der Mensch und soll es sein.

Was hat eine solche Sprache, eine solche Vertiefung in die Symbolik des
Kegelspiels, ein solcher Wortwitz mit der Kugel, die theils zum Schießen, theils
zum Rollen gebraucht wird, eine solche Anticipation des Freischützes, blos weil
dort auch Kugeln gegossen werden, für einen Zweck? Welche Stimmung des
Gemüths soll sie anregen? Wir finden keine Antwort. Die Bilder gehen mit
dem Dichter durch, der Dichter läßt ihnen völlig die Zügel, ohne zu sehen, wohin
sie ihn führen. -- Von dem Schluß des Ganzen, wo Marie in wirklichen Wahn¬
sinn verfällt, reden wir nicht, da man von einem Delirium verständige und ästhe¬
tische Folgen nicht erwarten wird; aber wir stellen auch hier die Frage aus:
Was haben die modernen Dichter für Interesse daran, uns mit den Gedanken
und Empfindungen von Verrückten bekannt zu machen, zusammenhangslose Ein¬
fälle an einander zu reihen, dazu gehört keine erhebliche dichterische Begabung.
Wie der Wahnsinn als ein tragisches Motiv benutzt werden kann, haben wir an
einem andern Orne bei Gelegenheit einer Aufführung des Lear angedeutet. --
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Esmeralda dazu kommt, init dem abstracten Begriff der Zerstörung in Parallele
gestellt zu werden, begreift man vollends nicht. — Unpassend ist auch ein Zug,
den Gottschall bei dem Morde Marat's hinzudichtet. Er läßt ihn nämlich bei
dem Anblick der Charlotte Corday von sinnlicher Brunst ergriffen werden. Wenn
man historische Charaktere schildern will, so muß man sie auch historisch schildern. —
Ganz in's Wüste verliert sich die Bildersprache in dem letzten Theil. Noch lange
bevor Marie wahnsinnig wird, hält sie einen Monolog, in dem sie die Schreck¬
nisse der Weltgeschichte zusammenfaßt und dann die Frage aufstellt: „Wo schläft
denn Gott, nachdem er diese Welt zum Spiel wie eine bunte Seifenblase aus
thönerner Pfeife blies?" Aber das klarste Bild über die Art und Weise der
Ideenassociation gieb't folgende Stelle. — Marie tritt an das Paradebett der
Geschichte:


Den Schleier reiß' ich von den bleichen Zügen,
Die Tücher reiß' ich von den mürben Leibern,
Und all die alten Wunden bluten frisch!
Das ist das Kegelspiel der Weltgeschichte;
Das sind die Neune, die der Herr geschoben!
Ist's nicht genug des Spiels, ihr blut'gen Opfer?
Wir nehmen selbst die Kugel jetzt zur Hand,
Im eignen Spiele gilt der eigne Wurf!
Der Arm ist stark — Gold rolle seine Welten,
Wir selber rollen unsers Glückes Kugel'!
Um's Haupt der Wolfsschlucht Sturm und Wcttcrbraus,
Wo eine losgclass'ne Hölle jauchzt,
Wir rufen nicht: Hilf, Gott! Hilf, Samiel.
Die Todeskugel gießen wir allein,
Ein Freischütz ist der Mensch und soll es sein.

Was hat eine solche Sprache, eine solche Vertiefung in die Symbolik des
Kegelspiels, ein solcher Wortwitz mit der Kugel, die theils zum Schießen, theils
zum Rollen gebraucht wird, eine solche Anticipation des Freischützes, blos weil
dort auch Kugeln gegossen werden, für einen Zweck? Welche Stimmung des
Gemüths soll sie anregen? Wir finden keine Antwort. Die Bilder gehen mit
dem Dichter durch, der Dichter läßt ihnen völlig die Zügel, ohne zu sehen, wohin
sie ihn führen. — Von dem Schluß des Ganzen, wo Marie in wirklichen Wahn¬
sinn verfällt, reden wir nicht, da man von einem Delirium verständige und ästhe¬
tische Folgen nicht erwarten wird; aber wir stellen auch hier die Frage aus:
Was haben die modernen Dichter für Interesse daran, uns mit den Gedanken
und Empfindungen von Verrückten bekannt zu machen, zusammenhangslose Ein¬
fälle an einander zu reihen, dazu gehört keine erhebliche dichterische Begabung.
Wie der Wahnsinn als ein tragisches Motiv benutzt werden kann, haben wir an
einem andern Orne bei Gelegenheit einer Aufführung des Lear angedeutet. —
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/141>, abgerufen am 15.06.2024.