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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Ma eine Fraction -- die Linke -- auf einmal ans ihren Reihen Redner, wie
L. Camphausen, Simson, A. v.Auerswald, Claesse", Beckerath, von Rönne, Dyhrn,
Beseler n. A. verliert, ohne in rhetorischer Beziehung irgend einen Ersah gewon¬
nen zu haben, so kann ein solcher Verlust auf die Anziehungskraft, welche die
parlamentarischen Kämpfe auf das größere Publicum a-nSüben, nicht ohne
Einfluß bleiben. Außer v. Vincke, Wentzel und Riedel sind jetzt in
der Linken nur Wenige, die ihren Auseinandersetzungen den gehörigen
rednerischen Nachdruck zu geben wissen; und welchen Werth hat die scharf¬
sinnigste Rede für die Tribünen, wenn das Ohr nur mühsam hier und dort
ein paar zusammenhangslose Worte erhasche" kann? Ganz trostlos ist die
Dürre ans der rechten Seite des Hauses; hier sind die Abg. v. Gerlach und
v. Kleist-Retzow nicht nur die beste" Redner, sonder" anch die geistreichsten Män¬
ner; hier müssen wir jetzt täglich mit kläglichen Debüts rhetorischer und schrift¬
stellerischer Schülcrarbeiten vorlieb nehmen. Der Mangel an Referenten ist nnter
der Majorität so fühlbar, daß sie einige Referate Personen übertragen hat, die
offenbar der dentschen Sprache nicht mächtig sind und durch ihre seltsamen Con-
structionen zu mannichfachen Mißverständnissen Veranlassung geben. In den gouverne-
mentalen Gefühlsergüssen, die wir von der Tribüne zu hören bekommen, herrscht
eine wahrhaft schreckenerregende Gedankenarmuth, die um so lächerlicher und wider¬
licher wird, je größer das junkerliche Selbstgefühl ist, mit dem sie zur Schau
gestellt wird. So hörten wir neulich einen Herrn v. Bycrn eine Unzahl thörichter
und trivialer Dinge mit einer suffisance sagen, die einem Hasenclever ein köst¬
liches Motiv für ein sehr ergötzliches Genrebild gewährt haben würde; und heute
sagte ein junger Manu, ein Landrath v. Grävenitz, eine Rede ans, die nach einer
regelrechten Disposition ausgearbeitet und mit den solennen UebergangsflvSkeln
und gangbarste" Redewendungen so vollständig verziert war, daß sie In u"um
älZlplimi edirt oder in die nächste patriotisch pnrificirte Ausgabe vou "Wilmsen's
Kinderfreund" aufgenommen zu werden verdiente. Wenn trotz alledem das Publi¬
cum geduldig bei deu Verhandlungen ausharrt, so bleibt uur die Vermuthung
übrig, daß auch die bisher indolenten Gemüther eine Ahnung vou der Bedeutung
des politischen Kampfes überkommt, der jetzt seinem traurigen Ende zu nahen
scheint. Es ist sehr möglich, daß anch solchen Personen, die in der Fluth der
Reaction, so lange sie ihnen "ur die Füße umspülte, ganz vergnügt plätscherten,
jetzt bange wird, wo die Wogen über ihren Schultern zusammen zu schlagen
drohen.

Vor gefüllten Tribünen hat die zweite Kammer am Sonnabend die Debatte
über den Gesetzentwurf, der die Cvmmnnalgesetzgcbnng des Jahres 185V besei¬
tigen soll, eröffnet und heute fortgesetzt. Die rechte Seite, nicht zufrieden damit,
daß jene Gesetze innerhalb zweijähriger Frist in dem größten Theile des Landes
noch nicht ausgeführt sind, und daß zahlreiche neue Entwürfe sie demnächst auch


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Ma eine Fraction — die Linke — auf einmal ans ihren Reihen Redner, wie
L. Camphausen, Simson, A. v.Auerswald, Claesse», Beckerath, von Rönne, Dyhrn,
Beseler n. A. verliert, ohne in rhetorischer Beziehung irgend einen Ersah gewon¬
nen zu haben, so kann ein solcher Verlust auf die Anziehungskraft, welche die
parlamentarischen Kämpfe auf das größere Publicum a-nSüben, nicht ohne
Einfluß bleiben. Außer v. Vincke, Wentzel und Riedel sind jetzt in
der Linken nur Wenige, die ihren Auseinandersetzungen den gehörigen
rednerischen Nachdruck zu geben wissen; und welchen Werth hat die scharf¬
sinnigste Rede für die Tribünen, wenn das Ohr nur mühsam hier und dort
ein paar zusammenhangslose Worte erhasche» kann? Ganz trostlos ist die
Dürre ans der rechten Seite des Hauses; hier sind die Abg. v. Gerlach und
v. Kleist-Retzow nicht nur die beste» Redner, sonder» anch die geistreichsten Män¬
ner; hier müssen wir jetzt täglich mit kläglichen Debüts rhetorischer und schrift¬
stellerischer Schülcrarbeiten vorlieb nehmen. Der Mangel an Referenten ist nnter
der Majorität so fühlbar, daß sie einige Referate Personen übertragen hat, die
offenbar der dentschen Sprache nicht mächtig sind und durch ihre seltsamen Con-
structionen zu mannichfachen Mißverständnissen Veranlassung geben. In den gouverne-
mentalen Gefühlsergüssen, die wir von der Tribüne zu hören bekommen, herrscht
eine wahrhaft schreckenerregende Gedankenarmuth, die um so lächerlicher und wider¬
licher wird, je größer das junkerliche Selbstgefühl ist, mit dem sie zur Schau
gestellt wird. So hörten wir neulich einen Herrn v. Bycrn eine Unzahl thörichter
und trivialer Dinge mit einer suffisance sagen, die einem Hasenclever ein köst¬
liches Motiv für ein sehr ergötzliches Genrebild gewährt haben würde; und heute
sagte ein junger Manu, ein Landrath v. Grävenitz, eine Rede ans, die nach einer
regelrechten Disposition ausgearbeitet und mit den solennen UebergangsflvSkeln
und gangbarste» Redewendungen so vollständig verziert war, daß sie In u«um
älZlplimi edirt oder in die nächste patriotisch pnrificirte Ausgabe vou „Wilmsen's
Kinderfreund" aufgenommen zu werden verdiente. Wenn trotz alledem das Publi¬
cum geduldig bei deu Verhandlungen ausharrt, so bleibt uur die Vermuthung
übrig, daß auch die bisher indolenten Gemüther eine Ahnung vou der Bedeutung
des politischen Kampfes überkommt, der jetzt seinem traurigen Ende zu nahen
scheint. Es ist sehr möglich, daß anch solchen Personen, die in der Fluth der
Reaction, so lange sie ihnen »ur die Füße umspülte, ganz vergnügt plätscherten,
jetzt bange wird, wo die Wogen über ihren Schultern zusammen zu schlagen
drohen.

Vor gefüllten Tribünen hat die zweite Kammer am Sonnabend die Debatte
über den Gesetzentwurf, der die Cvmmnnalgesetzgcbnng des Jahres 185V besei¬
tigen soll, eröffnet und heute fortgesetzt. Die rechte Seite, nicht zufrieden damit,
daß jene Gesetze innerhalb zweijähriger Frist in dem größten Theile des Landes
noch nicht ausgeführt sind, und daß zahlreiche neue Entwürfe sie demnächst auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/307>, abgerufen am 22.05.2024.