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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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von der Presse besprochen. Wie sich von selbst versteht, findet es bei dieser
nicht die gefällige Bewunderung, die ihm zu unserem Leidwesen ein Theil der
deutschen Presse zollt, und man hat sehr bald aus der sophistischen Hülle den
Kern herausgefunden, der an die Stelle des den europäischen Staatenbau zu¬
sammenhaltenden Völkerrechtes das Recht des Stärkern setzen, will. Die Sprache
der verschiedenen Parteiorgane ist seitdem noch entschiedener gegen Nußland ge¬
worden, und selbst die conservativsten Blätter machen davon keine Ausnahme.
Ueberhaupt dürften wol die neuesten Schritte der russischen Politik in der tür¬
kischen Angelegenheit dem Ansehen des Kaisers Nikolaus bei einer einflußreichen
Classe englischer Staatsmänner großen Schaden thun. Jene ganze Classe con-
servativer Politiker, welche bisher ein so festes Vertrauen auf die Mäßigung des
russischen Cabinets in allen Fragen auswärtiger Politik setzte, und welche bestän¬
dig die persönliche Ehrenhaftigkeit des Kaisers als die beste Garantie für die
Aufrichtigkeit der Betheuerungen der russischen Diplomatie und die Uneigennützig-
keit der Politik des Cabinets vou Se. Petersburg hielt, ist jetzt doch anderer Mei¬
nung geworden, und sieht ein, daß alle jene hochtönenden Phrasen von Gerech¬
tigkeitsliebe, loyalem Festhalten an bestehenden Verträgen u. s. w. eben nur leere
Phrasen waren, um Leichtgläubige gegen politische Maßregeln einzunehmen, die
gegen Rußlands Einfluß gerichtet waren, daß aber Gerechtigkeitsliebe und bestehende
Verträge nichts mehr gelten, wenn sie Rußlands Interesse im Wege stehen. In
der Auffassung der Frage seitens der Regierung -- soweit es erlaubt ist, aus
den Zeitungen, welche bei so wichtigen Vorfällen als ihre Organe gelten können,
Schlüsse zu ziehen -- ist keine Aenderung eingetreten. Sie wird allerdings die
Besetzung der Donaufürstenthümer durch Rußland als einen Casus belli betrach¬
ten, der die Türkei der Verpflichtung enthebt, die Dardanellen der englischen und
französischen Flotte länger verschlossen zu halten, und durch den Rußland, als der
angreifende Theil, alle Vortheile der bisher mit der Pforte abgeschlossenen Ver¬
träge verliert, die nun co ipso erlöschen. Aber ob die beiden Flotten sofort feind¬
selig auftreten, oder ob sie blos zur Unterstützung von neuen Vermittelungsversuchen
benutzt werden, das hängt lediglich von der Haltung der Türkei ab, indem England
und Frankreich nnr als Verbündete, und nicht als direkt Kriegführende auftreten.
Die Times stellt noch ein versöhnendes Einschreiten Oestreichs in Aussicht, indem
sie mit großer Bestimmtheit meldet, Nußland habe das östreichische Cabinet er¬
sucht, bei der Pforte diplomatisch auf die Annahme seines Ultimatums einzu¬
wirken, Oestreich aber erklärt, das könne es nicht, da es die russischeU Forderungen
nicht in ihrer ganzen Ausdehnung rechtfertigen könne, dagegen wolle es versuchen,
in Konstantinopel einen Mittelweg aufzufinden, der die streitenden Parteien noch
versöhnen könne. Eine solche faktische Uuabhängigkeitserklärung Oestreichs von
Nußland würde uns aufrichtig freuen, denn dann wäre doch Aussicht vorhanden,
daß Oestreichs und Deutschlands Interessen, die hier Hand in Hand gehen, durch


von der Presse besprochen. Wie sich von selbst versteht, findet es bei dieser
nicht die gefällige Bewunderung, die ihm zu unserem Leidwesen ein Theil der
deutschen Presse zollt, und man hat sehr bald aus der sophistischen Hülle den
Kern herausgefunden, der an die Stelle des den europäischen Staatenbau zu¬
sammenhaltenden Völkerrechtes das Recht des Stärkern setzen, will. Die Sprache
der verschiedenen Parteiorgane ist seitdem noch entschiedener gegen Nußland ge¬
worden, und selbst die conservativsten Blätter machen davon keine Ausnahme.
Ueberhaupt dürften wol die neuesten Schritte der russischen Politik in der tür¬
kischen Angelegenheit dem Ansehen des Kaisers Nikolaus bei einer einflußreichen
Classe englischer Staatsmänner großen Schaden thun. Jene ganze Classe con-
servativer Politiker, welche bisher ein so festes Vertrauen auf die Mäßigung des
russischen Cabinets in allen Fragen auswärtiger Politik setzte, und welche bestän¬
dig die persönliche Ehrenhaftigkeit des Kaisers als die beste Garantie für die
Aufrichtigkeit der Betheuerungen der russischen Diplomatie und die Uneigennützig-
keit der Politik des Cabinets vou Se. Petersburg hielt, ist jetzt doch anderer Mei¬
nung geworden, und sieht ein, daß alle jene hochtönenden Phrasen von Gerech¬
tigkeitsliebe, loyalem Festhalten an bestehenden Verträgen u. s. w. eben nur leere
Phrasen waren, um Leichtgläubige gegen politische Maßregeln einzunehmen, die
gegen Rußlands Einfluß gerichtet waren, daß aber Gerechtigkeitsliebe und bestehende
Verträge nichts mehr gelten, wenn sie Rußlands Interesse im Wege stehen. In
der Auffassung der Frage seitens der Regierung — soweit es erlaubt ist, aus
den Zeitungen, welche bei so wichtigen Vorfällen als ihre Organe gelten können,
Schlüsse zu ziehen — ist keine Aenderung eingetreten. Sie wird allerdings die
Besetzung der Donaufürstenthümer durch Rußland als einen Casus belli betrach¬
ten, der die Türkei der Verpflichtung enthebt, die Dardanellen der englischen und
französischen Flotte länger verschlossen zu halten, und durch den Rußland, als der
angreifende Theil, alle Vortheile der bisher mit der Pforte abgeschlossenen Ver¬
träge verliert, die nun co ipso erlöschen. Aber ob die beiden Flotten sofort feind¬
selig auftreten, oder ob sie blos zur Unterstützung von neuen Vermittelungsversuchen
benutzt werden, das hängt lediglich von der Haltung der Türkei ab, indem England
und Frankreich nnr als Verbündete, und nicht als direkt Kriegführende auftreten.
Die Times stellt noch ein versöhnendes Einschreiten Oestreichs in Aussicht, indem
sie mit großer Bestimmtheit meldet, Nußland habe das östreichische Cabinet er¬
sucht, bei der Pforte diplomatisch auf die Annahme seines Ultimatums einzu¬
wirken, Oestreich aber erklärt, das könne es nicht, da es die russischeU Forderungen
nicht in ihrer ganzen Ausdehnung rechtfertigen könne, dagegen wolle es versuchen,
in Konstantinopel einen Mittelweg aufzufinden, der die streitenden Parteien noch
versöhnen könne. Eine solche faktische Uuabhängigkeitserklärung Oestreichs von
Nußland würde uns aufrichtig freuen, denn dann wäre doch Aussicht vorhanden,
daß Oestreichs und Deutschlands Interessen, die hier Hand in Hand gehen, durch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/84>, abgerufen am 27.05.2024.