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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Hauptmann u. s. w. In diese Reihe gehört auch Werther und Albert.
Ueberall finden wir auf der einen Seite den excentrischen Gefühlsmenschen,
aus der andern den nüchternen Verstand. Indem nun diese beiden entgegen¬
gesetzten Eigenschaften, die durch ihre harmonische Vereinigung in Goethes
Leben eine so bezaubernde Erscheinung hervorriefen, in dein Gedicht sich
trennten, wurden dadurch die poetischen Charaktere sehr benachtheiligt, denn sie
erschienen theilweise als unfertig. Wir müssen noch hinzufügen, daß uns diese
Trennung der Charaktermomcnte zuweilen auch in Goethes Leben begegnet.
Zuweilen war er zuerst nur der leidenschaftlich erregte Gefühlsmensch, dann der
kalt reflectirende Verstandesmensch, wie man das in den verschiedenen Liebes¬
verhältnissen in Wahrheit und Dichtung auch wol herausfühlt. Aber es war
eben nur zuweilen der Fall. Im allgemeinen war er stets die harmonisch
gebildete Natur, in welcher sich die Gegensätze zu einer schönen Erscheinung
ergänzten und berichtigten, und darum dürfen wir aus seinen poetischen Ge¬
bilden nur mit großer Vorsicht auf seinen wirklichen Charakter schließen.

Von den Papieren der Kestnerschcn Familie war einzelnes schon früher
dem Publicum bekannt geworden. Am vollständigsten ist dasselbe in Düntzers
Studien zu Goethes Werken (Elberfeld, Bädeker 1849) mitgetheilt. Aber aller¬
dings machen gegenwärtig die zusammenhängenden Briefe einen viel wärmeren
und lebensvolleren Eindruck, als die zerstreuten Notizen, die früher bekannt
waren. Wenn so manche von den Goethescher Briefsammlungen nur für die
stille Gemeinde waren, die sich in gleichmäßiger Verehrung um Goethe sammelte,
so find die vorliegenden für das gesammte deutsche Volk, und keiner, dessen
Gefühl einmal vom Werther erregt worden ist, wird sie ohne Theilnahme,
Rührung und Erbauung aus der Hand legen.

Wir beginnen mit dem Bericht, den Kestner nach dem Erscheinen deS
Werther an einen Freund abstattet (S. 226 u. f.). "Im ersten Theil
des Werthers ist Werther Goethe selbst. In Lotte und Albert hat er von
uns, meiner Frau und mir, Züge entlehnt. Viele von uns sind ganz wahr,
aber doch zum Theil verändert; andere sind in unsrer Geschichte wenigstens
fremd. Um des zweiten Theils willen und um den Tod des Werthers vor¬
zubereiten, hat er im ersten Theil verschiedenes hinzugedichtet, das uns gar
nicht zukommt. Lotte hat z. B. weder mit Goethe noch mit sonst einem an¬
deren in dem ziemlich genauen Verhältniß gestanden, wie da beschrieben ist;
dies haben wir ihm allerdings sehr übel zu nehmen, indem viele Neben-
umstäuöe zu wahr und zu bekannt sind, als daß man nicht auf uns hätte
fallen sollen......Sonst ist in Werthern viel von Goethes Charakter und
Denkungsart. Lottens Porträt ist im ganzen das von meiner Frau. Albert
hätte ein wenig wärmer sein mögen. -- Soviel vom ersten Theile, der zweite
geht uns gar nichts an. Da ist Werther der junge Jerusalem, Albert der


Hauptmann u. s. w. In diese Reihe gehört auch Werther und Albert.
Ueberall finden wir auf der einen Seite den excentrischen Gefühlsmenschen,
aus der andern den nüchternen Verstand. Indem nun diese beiden entgegen¬
gesetzten Eigenschaften, die durch ihre harmonische Vereinigung in Goethes
Leben eine so bezaubernde Erscheinung hervorriefen, in dein Gedicht sich
trennten, wurden dadurch die poetischen Charaktere sehr benachtheiligt, denn sie
erschienen theilweise als unfertig. Wir müssen noch hinzufügen, daß uns diese
Trennung der Charaktermomcnte zuweilen auch in Goethes Leben begegnet.
Zuweilen war er zuerst nur der leidenschaftlich erregte Gefühlsmensch, dann der
kalt reflectirende Verstandesmensch, wie man das in den verschiedenen Liebes¬
verhältnissen in Wahrheit und Dichtung auch wol herausfühlt. Aber es war
eben nur zuweilen der Fall. Im allgemeinen war er stets die harmonisch
gebildete Natur, in welcher sich die Gegensätze zu einer schönen Erscheinung
ergänzten und berichtigten, und darum dürfen wir aus seinen poetischen Ge¬
bilden nur mit großer Vorsicht auf seinen wirklichen Charakter schließen.

Von den Papieren der Kestnerschcn Familie war einzelnes schon früher
dem Publicum bekannt geworden. Am vollständigsten ist dasselbe in Düntzers
Studien zu Goethes Werken (Elberfeld, Bädeker 1849) mitgetheilt. Aber aller¬
dings machen gegenwärtig die zusammenhängenden Briefe einen viel wärmeren
und lebensvolleren Eindruck, als die zerstreuten Notizen, die früher bekannt
waren. Wenn so manche von den Goethescher Briefsammlungen nur für die
stille Gemeinde waren, die sich in gleichmäßiger Verehrung um Goethe sammelte,
so find die vorliegenden für das gesammte deutsche Volk, und keiner, dessen
Gefühl einmal vom Werther erregt worden ist, wird sie ohne Theilnahme,
Rührung und Erbauung aus der Hand legen.

Wir beginnen mit dem Bericht, den Kestner nach dem Erscheinen deS
Werther an einen Freund abstattet (S. 226 u. f.). „Im ersten Theil
des Werthers ist Werther Goethe selbst. In Lotte und Albert hat er von
uns, meiner Frau und mir, Züge entlehnt. Viele von uns sind ganz wahr,
aber doch zum Theil verändert; andere sind in unsrer Geschichte wenigstens
fremd. Um des zweiten Theils willen und um den Tod des Werthers vor¬
zubereiten, hat er im ersten Theil verschiedenes hinzugedichtet, das uns gar
nicht zukommt. Lotte hat z. B. weder mit Goethe noch mit sonst einem an¬
deren in dem ziemlich genauen Verhältniß gestanden, wie da beschrieben ist;
dies haben wir ihm allerdings sehr übel zu nehmen, indem viele Neben-
umstäuöe zu wahr und zu bekannt sind, als daß man nicht auf uns hätte
fallen sollen......Sonst ist in Werthern viel von Goethes Charakter und
Denkungsart. Lottens Porträt ist im ganzen das von meiner Frau. Albert
hätte ein wenig wärmer sein mögen. — Soviel vom ersten Theile, der zweite
geht uns gar nichts an. Da ist Werther der junge Jerusalem, Albert der


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[0370] Hauptmann u. s. w. In diese Reihe gehört auch Werther und Albert. Ueberall finden wir auf der einen Seite den excentrischen Gefühlsmenschen, aus der andern den nüchternen Verstand. Indem nun diese beiden entgegen¬ gesetzten Eigenschaften, die durch ihre harmonische Vereinigung in Goethes Leben eine so bezaubernde Erscheinung hervorriefen, in dein Gedicht sich trennten, wurden dadurch die poetischen Charaktere sehr benachtheiligt, denn sie erschienen theilweise als unfertig. Wir müssen noch hinzufügen, daß uns diese Trennung der Charaktermomcnte zuweilen auch in Goethes Leben begegnet. Zuweilen war er zuerst nur der leidenschaftlich erregte Gefühlsmensch, dann der kalt reflectirende Verstandesmensch, wie man das in den verschiedenen Liebes¬ verhältnissen in Wahrheit und Dichtung auch wol herausfühlt. Aber es war eben nur zuweilen der Fall. Im allgemeinen war er stets die harmonisch gebildete Natur, in welcher sich die Gegensätze zu einer schönen Erscheinung ergänzten und berichtigten, und darum dürfen wir aus seinen poetischen Ge¬ bilden nur mit großer Vorsicht auf seinen wirklichen Charakter schließen. Von den Papieren der Kestnerschcn Familie war einzelnes schon früher dem Publicum bekannt geworden. Am vollständigsten ist dasselbe in Düntzers Studien zu Goethes Werken (Elberfeld, Bädeker 1849) mitgetheilt. Aber aller¬ dings machen gegenwärtig die zusammenhängenden Briefe einen viel wärmeren und lebensvolleren Eindruck, als die zerstreuten Notizen, die früher bekannt waren. Wenn so manche von den Goethescher Briefsammlungen nur für die stille Gemeinde waren, die sich in gleichmäßiger Verehrung um Goethe sammelte, so find die vorliegenden für das gesammte deutsche Volk, und keiner, dessen Gefühl einmal vom Werther erregt worden ist, wird sie ohne Theilnahme, Rührung und Erbauung aus der Hand legen. Wir beginnen mit dem Bericht, den Kestner nach dem Erscheinen deS Werther an einen Freund abstattet (S. 226 u. f.). „Im ersten Theil des Werthers ist Werther Goethe selbst. In Lotte und Albert hat er von uns, meiner Frau und mir, Züge entlehnt. Viele von uns sind ganz wahr, aber doch zum Theil verändert; andere sind in unsrer Geschichte wenigstens fremd. Um des zweiten Theils willen und um den Tod des Werthers vor¬ zubereiten, hat er im ersten Theil verschiedenes hinzugedichtet, das uns gar nicht zukommt. Lotte hat z. B. weder mit Goethe noch mit sonst einem an¬ deren in dem ziemlich genauen Verhältniß gestanden, wie da beschrieben ist; dies haben wir ihm allerdings sehr übel zu nehmen, indem viele Neben- umstäuöe zu wahr und zu bekannt sind, als daß man nicht auf uns hätte fallen sollen......Sonst ist in Werthern viel von Goethes Charakter und Denkungsart. Lottens Porträt ist im ganzen das von meiner Frau. Albert hätte ein wenig wärmer sein mögen. — Soviel vom ersten Theile, der zweite geht uns gar nichts an. Da ist Werther der junge Jerusalem, Albert der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/370>, abgerufen am 28.05.2024.