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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Während also die deutsche Kritik in jenen Gesängen Wahrheit, d. h. den
correcten Ausdruck des wirklichen religiösen Bewußtseins fand, was übrigens
in einer naiven Zeit dadurch keineswegs'aufgehoben wird, daß der Dichter
seinen Gegenstand ausführlicher behandelt, in lebendiger" Farben darstellt,
den Göttern und Menschen lange Reden in den Mund legt, ti.e er doch wahr¬
scheinlich nicht gehört haben kann, weil in einer naiven Zeit dieser Unterschied
zwischen phantastischer Poesie und actenmäßiger Prosa noch gar nicht besteht;
während also die deutsche, Kritik den Homer und die Plastik als die Quellen
der griechischen Religion betrachtet, findet Herr Braun in ihnen ein indivi¬
duelles , nicht nationales Kunstwerk, und sucht die Quelle der griechischen Re¬
ligion im Hesiod, der, wie er selbst sagt, nichts weiter enthält, als eine Kor¬
ruption des ägyptischen Systems. Wir wollen ihn selbst hören S. 106.

,,Homer, allerdings nicht am Anfang, sondern am Ende einer langen
Entwicklung stehend, hat die letzten Reste ägyptischer Ideen dem rein helle¬
nischen Schönheitstrieb geopfert. Das ägyptische Bild ist immer nur ein Buch¬
stabe, der keine andere Aufgabe hat, als seinen Sinn zu sagen. Wenn dieser
Sinn verloren ist, dann bleibt nichts, als eine Form, die auf Schönheit nie¬
mals Anspruch machte, aber oft erschrecklich häßlich ist. Was konnte Homer
besseres thun, als schöne Formen daraus machen?... Inhalt dürfen wir in
der That nicht suchen. Was bleibt von einem Apollo, von einer Athene
ohne ihre Gestalt? und jene Götter, in denen Ideen gähren, wie Dionysos
und Dem'eder, wer kann sie nicht brauchen und schließt sie aus von seiner
Götterhalle? Sein Princip ist energisch durchgeführt: Einheit durch die ge¬
meinsame Ausprägung der Formen, mögen sie stammen, woher sie wollen,
aus Historie, Natur oder Abstraction."

Diese Auffassung eines Dichters als eines planmachenden Erfinders scheint
denselben zwar auf ein sehr hohes Piedestal zu stellen, denn sie macht ihn
gradezu zu einem Schöpfer, aber sie ist im Grunde ebenso nüchtern und pro¬
saisch, als die Auffassung Voltaires von Mahomed und Schillers von Moses,
die beide ihre Propheten zu politischen Planmachern herabsetzen, wenn auch
im kolossalsten Maßstabe. Wir haben immer den wahren Dichter für einen
Seher gehalten, in dessen gewaltig concentrirten Gemüth die gegenständliche
Welt ihr wahres Abbild fand, nicht nach künstlich ausgearbeiteten Perspectiven,
sondern in unmittelbarster zutrauensvoller Anschauung. Dabei müssen wir
freilich zweierlei bemerken. Unter den wahren Dichtern verstehen wir nicht die
modernen Versifcre, die sich hinsetzen, um zu Gunsten einer Regel, oder einer
Stimmung des Publicums, oder einer eignen Caprice sich eine Geschichte
auszudenken. Diese halten wir allerdings nicht für Seher, und wir theilen
überhaupt nicht die Ansicht Uhlandö, daß die wahren Dichter so zahlreich sind,
um gleich den Sperlingen von allen Zweigen zu zwitschern. Ferner ist uns


Während also die deutsche Kritik in jenen Gesängen Wahrheit, d. h. den
correcten Ausdruck des wirklichen religiösen Bewußtseins fand, was übrigens
in einer naiven Zeit dadurch keineswegs'aufgehoben wird, daß der Dichter
seinen Gegenstand ausführlicher behandelt, in lebendiger» Farben darstellt,
den Göttern und Menschen lange Reden in den Mund legt, ti.e er doch wahr¬
scheinlich nicht gehört haben kann, weil in einer naiven Zeit dieser Unterschied
zwischen phantastischer Poesie und actenmäßiger Prosa noch gar nicht besteht;
während also die deutsche, Kritik den Homer und die Plastik als die Quellen
der griechischen Religion betrachtet, findet Herr Braun in ihnen ein indivi¬
duelles , nicht nationales Kunstwerk, und sucht die Quelle der griechischen Re¬
ligion im Hesiod, der, wie er selbst sagt, nichts weiter enthält, als eine Kor¬
ruption des ägyptischen Systems. Wir wollen ihn selbst hören S. 106.

,,Homer, allerdings nicht am Anfang, sondern am Ende einer langen
Entwicklung stehend, hat die letzten Reste ägyptischer Ideen dem rein helle¬
nischen Schönheitstrieb geopfert. Das ägyptische Bild ist immer nur ein Buch¬
stabe, der keine andere Aufgabe hat, als seinen Sinn zu sagen. Wenn dieser
Sinn verloren ist, dann bleibt nichts, als eine Form, die auf Schönheit nie¬
mals Anspruch machte, aber oft erschrecklich häßlich ist. Was konnte Homer
besseres thun, als schöne Formen daraus machen?... Inhalt dürfen wir in
der That nicht suchen. Was bleibt von einem Apollo, von einer Athene
ohne ihre Gestalt? und jene Götter, in denen Ideen gähren, wie Dionysos
und Dem'eder, wer kann sie nicht brauchen und schließt sie aus von seiner
Götterhalle? Sein Princip ist energisch durchgeführt: Einheit durch die ge¬
meinsame Ausprägung der Formen, mögen sie stammen, woher sie wollen,
aus Historie, Natur oder Abstraction."

Diese Auffassung eines Dichters als eines planmachenden Erfinders scheint
denselben zwar auf ein sehr hohes Piedestal zu stellen, denn sie macht ihn
gradezu zu einem Schöpfer, aber sie ist im Grunde ebenso nüchtern und pro¬
saisch, als die Auffassung Voltaires von Mahomed und Schillers von Moses,
die beide ihre Propheten zu politischen Planmachern herabsetzen, wenn auch
im kolossalsten Maßstabe. Wir haben immer den wahren Dichter für einen
Seher gehalten, in dessen gewaltig concentrirten Gemüth die gegenständliche
Welt ihr wahres Abbild fand, nicht nach künstlich ausgearbeiteten Perspectiven,
sondern in unmittelbarster zutrauensvoller Anschauung. Dabei müssen wir
freilich zweierlei bemerken. Unter den wahren Dichtern verstehen wir nicht die
modernen Versifcre, die sich hinsetzen, um zu Gunsten einer Regel, oder einer
Stimmung des Publicums, oder einer eignen Caprice sich eine Geschichte
auszudenken. Diese halten wir allerdings nicht für Seher, und wir theilen
überhaupt nicht die Ansicht Uhlandö, daß die wahren Dichter so zahlreich sind,
um gleich den Sperlingen von allen Zweigen zu zwitschern. Ferner ist uns


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[0224] Während also die deutsche Kritik in jenen Gesängen Wahrheit, d. h. den correcten Ausdruck des wirklichen religiösen Bewußtseins fand, was übrigens in einer naiven Zeit dadurch keineswegs'aufgehoben wird, daß der Dichter seinen Gegenstand ausführlicher behandelt, in lebendiger» Farben darstellt, den Göttern und Menschen lange Reden in den Mund legt, ti.e er doch wahr¬ scheinlich nicht gehört haben kann, weil in einer naiven Zeit dieser Unterschied zwischen phantastischer Poesie und actenmäßiger Prosa noch gar nicht besteht; während also die deutsche, Kritik den Homer und die Plastik als die Quellen der griechischen Religion betrachtet, findet Herr Braun in ihnen ein indivi¬ duelles , nicht nationales Kunstwerk, und sucht die Quelle der griechischen Re¬ ligion im Hesiod, der, wie er selbst sagt, nichts weiter enthält, als eine Kor¬ ruption des ägyptischen Systems. Wir wollen ihn selbst hören S. 106. ,,Homer, allerdings nicht am Anfang, sondern am Ende einer langen Entwicklung stehend, hat die letzten Reste ägyptischer Ideen dem rein helle¬ nischen Schönheitstrieb geopfert. Das ägyptische Bild ist immer nur ein Buch¬ stabe, der keine andere Aufgabe hat, als seinen Sinn zu sagen. Wenn dieser Sinn verloren ist, dann bleibt nichts, als eine Form, die auf Schönheit nie¬ mals Anspruch machte, aber oft erschrecklich häßlich ist. Was konnte Homer besseres thun, als schöne Formen daraus machen?... Inhalt dürfen wir in der That nicht suchen. Was bleibt von einem Apollo, von einer Athene ohne ihre Gestalt? und jene Götter, in denen Ideen gähren, wie Dionysos und Dem'eder, wer kann sie nicht brauchen und schließt sie aus von seiner Götterhalle? Sein Princip ist energisch durchgeführt: Einheit durch die ge¬ meinsame Ausprägung der Formen, mögen sie stammen, woher sie wollen, aus Historie, Natur oder Abstraction." Diese Auffassung eines Dichters als eines planmachenden Erfinders scheint denselben zwar auf ein sehr hohes Piedestal zu stellen, denn sie macht ihn gradezu zu einem Schöpfer, aber sie ist im Grunde ebenso nüchtern und pro¬ saisch, als die Auffassung Voltaires von Mahomed und Schillers von Moses, die beide ihre Propheten zu politischen Planmachern herabsetzen, wenn auch im kolossalsten Maßstabe. Wir haben immer den wahren Dichter für einen Seher gehalten, in dessen gewaltig concentrirten Gemüth die gegenständliche Welt ihr wahres Abbild fand, nicht nach künstlich ausgearbeiteten Perspectiven, sondern in unmittelbarster zutrauensvoller Anschauung. Dabei müssen wir freilich zweierlei bemerken. Unter den wahren Dichtern verstehen wir nicht die modernen Versifcre, die sich hinsetzen, um zu Gunsten einer Regel, oder einer Stimmung des Publicums, oder einer eignen Caprice sich eine Geschichte auszudenken. Diese halten wir allerdings nicht für Seher, und wir theilen überhaupt nicht die Ansicht Uhlandö, daß die wahren Dichter so zahlreich sind, um gleich den Sperlingen von allen Zweigen zu zwitschern. Ferner ist uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/224>, abgerufen am 19.05.2024.