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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Ständigkeit. Fast von sämmtlichen Staaten Europas finden wir in diesen Heften
eine mehr oder minder ausführliche encyklopädistische Darstellung, die zum Theil
in die Vergangenheit hinausreicht; die bedeutendsten Charaktere (z. B. Gagern,
Radowitz, Camphausen, Rossi u. s. w.) werden von sachkundigen Biographen
besprochen, und auch die eigentlichen politischen Fragen finden ihr Recht. Man
wird mit den Verfassern derselben in Beziehung aus die ideellen Resultate häufig
in Conflict gerathen, aber die Species facti ist fast immer deutlich und vollstän¬
dig vorgetragen, und das ist in solchen Dingen doch die Hauptsache. -- Neben
diesen politischen Artikeln nehmen den meisten Raum diejenigen ein, die sich
mit den Naturwissenschaften, der Geographie, dem Gewerbwesen und den in¬
dustriellen Bewegungen beschäftigen. Diese Artikel haben einen bleibenden
Werth. Sie sind zum Theil nicht blos von Sachverständigen, sondern von
den bedeutendsten Männern der Wissenschaft verfaßt und würden auch inner¬
halb der eigentlichen Literatur ihre Berechtigung haben. -- Am wenigsten ist
die Literatur berücksichtigt worden. Es finden sich in den ersten Bänden
einige ganz ausgezeichnete Aufsätze, z. B. über Schlegel und Görres, aber
diese bleiben sporadisch; wir finden zwar .später noch mehre sehr ausführliche
Berichte über das deutsche Theater, den deutschen Roman u. s. w., allein von
einem wesentlich encyklopädistischen Charakter; es werden uns eine ungeheure
Menge von Namen vorgeführt, das Mittelmäßige und Schlechte fast in glei¬
cher Ausdehnung neben dem Guten, aber eine klare Einsicht über den Gang
der Literatur gewinnen wir daraus keineswegs; indeß macht sich dieser Mangel
im ganzen wenig fühlbar, da für die Besprechung der Literatur Zeitschriften
genug vorhanden sind, und da in diesem Felde ein parteiloses, ganz objectives
Urtheil, wie es das Publicum einer Encyklopädie braucht, viel schwerer zu er¬
reichen ist als aus dem Gebiet der Naturwissenschaften und den daran zunächst-
grcnzenden Zweigen des menschlichen Interesses. Wir können von der "Gegen¬
wart" behaupten, daß sie im ganzen einen wohlthätigen Einfluß ausgeübt hat.
Sie hat bei ihrer großen Verbreitung viel dazu beigetragen, das Interesse von
den abstracten Ideen auf die Thatsachen überzuleiten, und das ist ein unbe¬
streitbarer Gewinn, denn die Kenntniß der Thatsachen vermittelt eine ruhig
fortschreitende Bildung, während der einseitige Idealismus die Gemüther in
zwecklosem Streit einander entfremdet. Die unfertigen Ideen verewigen den
Kampf, während der Boden der Thatsachen ein neutraler ist, auf dem die strei¬
tenden Principien zum Austrag kommen. Freilich werden die Thatsachen nur
dann einen bleibenden Werth haben, wenn sie wieder zu neuen Principien und
Ideen führen.




Ständigkeit. Fast von sämmtlichen Staaten Europas finden wir in diesen Heften
eine mehr oder minder ausführliche encyklopädistische Darstellung, die zum Theil
in die Vergangenheit hinausreicht; die bedeutendsten Charaktere (z. B. Gagern,
Radowitz, Camphausen, Rossi u. s. w.) werden von sachkundigen Biographen
besprochen, und auch die eigentlichen politischen Fragen finden ihr Recht. Man
wird mit den Verfassern derselben in Beziehung aus die ideellen Resultate häufig
in Conflict gerathen, aber die Species facti ist fast immer deutlich und vollstän¬
dig vorgetragen, und das ist in solchen Dingen doch die Hauptsache. — Neben
diesen politischen Artikeln nehmen den meisten Raum diejenigen ein, die sich
mit den Naturwissenschaften, der Geographie, dem Gewerbwesen und den in¬
dustriellen Bewegungen beschäftigen. Diese Artikel haben einen bleibenden
Werth. Sie sind zum Theil nicht blos von Sachverständigen, sondern von
den bedeutendsten Männern der Wissenschaft verfaßt und würden auch inner¬
halb der eigentlichen Literatur ihre Berechtigung haben. — Am wenigsten ist
die Literatur berücksichtigt worden. Es finden sich in den ersten Bänden
einige ganz ausgezeichnete Aufsätze, z. B. über Schlegel und Görres, aber
diese bleiben sporadisch; wir finden zwar .später noch mehre sehr ausführliche
Berichte über das deutsche Theater, den deutschen Roman u. s. w., allein von
einem wesentlich encyklopädistischen Charakter; es werden uns eine ungeheure
Menge von Namen vorgeführt, das Mittelmäßige und Schlechte fast in glei¬
cher Ausdehnung neben dem Guten, aber eine klare Einsicht über den Gang
der Literatur gewinnen wir daraus keineswegs; indeß macht sich dieser Mangel
im ganzen wenig fühlbar, da für die Besprechung der Literatur Zeitschriften
genug vorhanden sind, und da in diesem Felde ein parteiloses, ganz objectives
Urtheil, wie es das Publicum einer Encyklopädie braucht, viel schwerer zu er¬
reichen ist als aus dem Gebiet der Naturwissenschaften und den daran zunächst-
grcnzenden Zweigen des menschlichen Interesses. Wir können von der „Gegen¬
wart" behaupten, daß sie im ganzen einen wohlthätigen Einfluß ausgeübt hat.
Sie hat bei ihrer großen Verbreitung viel dazu beigetragen, das Interesse von
den abstracten Ideen auf die Thatsachen überzuleiten, und das ist ein unbe¬
streitbarer Gewinn, denn die Kenntniß der Thatsachen vermittelt eine ruhig
fortschreitende Bildung, während der einseitige Idealismus die Gemüther in
zwecklosem Streit einander entfremdet. Die unfertigen Ideen verewigen den
Kampf, während der Boden der Thatsachen ein neutraler ist, auf dem die strei¬
tenden Principien zum Austrag kommen. Freilich werden die Thatsachen nur
dann einen bleibenden Werth haben, wenn sie wieder zu neuen Principien und
Ideen führen.




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[0242] Ständigkeit. Fast von sämmtlichen Staaten Europas finden wir in diesen Heften eine mehr oder minder ausführliche encyklopädistische Darstellung, die zum Theil in die Vergangenheit hinausreicht; die bedeutendsten Charaktere (z. B. Gagern, Radowitz, Camphausen, Rossi u. s. w.) werden von sachkundigen Biographen besprochen, und auch die eigentlichen politischen Fragen finden ihr Recht. Man wird mit den Verfassern derselben in Beziehung aus die ideellen Resultate häufig in Conflict gerathen, aber die Species facti ist fast immer deutlich und vollstän¬ dig vorgetragen, und das ist in solchen Dingen doch die Hauptsache. — Neben diesen politischen Artikeln nehmen den meisten Raum diejenigen ein, die sich mit den Naturwissenschaften, der Geographie, dem Gewerbwesen und den in¬ dustriellen Bewegungen beschäftigen. Diese Artikel haben einen bleibenden Werth. Sie sind zum Theil nicht blos von Sachverständigen, sondern von den bedeutendsten Männern der Wissenschaft verfaßt und würden auch inner¬ halb der eigentlichen Literatur ihre Berechtigung haben. — Am wenigsten ist die Literatur berücksichtigt worden. Es finden sich in den ersten Bänden einige ganz ausgezeichnete Aufsätze, z. B. über Schlegel und Görres, aber diese bleiben sporadisch; wir finden zwar .später noch mehre sehr ausführliche Berichte über das deutsche Theater, den deutschen Roman u. s. w., allein von einem wesentlich encyklopädistischen Charakter; es werden uns eine ungeheure Menge von Namen vorgeführt, das Mittelmäßige und Schlechte fast in glei¬ cher Ausdehnung neben dem Guten, aber eine klare Einsicht über den Gang der Literatur gewinnen wir daraus keineswegs; indeß macht sich dieser Mangel im ganzen wenig fühlbar, da für die Besprechung der Literatur Zeitschriften genug vorhanden sind, und da in diesem Felde ein parteiloses, ganz objectives Urtheil, wie es das Publicum einer Encyklopädie braucht, viel schwerer zu er¬ reichen ist als aus dem Gebiet der Naturwissenschaften und den daran zunächst- grcnzenden Zweigen des menschlichen Interesses. Wir können von der „Gegen¬ wart" behaupten, daß sie im ganzen einen wohlthätigen Einfluß ausgeübt hat. Sie hat bei ihrer großen Verbreitung viel dazu beigetragen, das Interesse von den abstracten Ideen auf die Thatsachen überzuleiten, und das ist ein unbe¬ streitbarer Gewinn, denn die Kenntniß der Thatsachen vermittelt eine ruhig fortschreitende Bildung, während der einseitige Idealismus die Gemüther in zwecklosem Streit einander entfremdet. Die unfertigen Ideen verewigen den Kampf, während der Boden der Thatsachen ein neutraler ist, auf dem die strei¬ tenden Principien zum Austrag kommen. Freilich werden die Thatsachen nur dann einen bleibenden Werth haben, wenn sie wieder zu neuen Principien und Ideen führen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/242>, abgerufen am 27.05.2024.