Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Demokratische Studien.

Ein berühmter Staatsmann hat sich einmal geäußert, daß die Demokratie,
richtig verstanden, innerhalb des preußischen Staatslebens ihre volle Berech¬
tigung habe, und daß nur die Partei der Doctrinärs von demselben auszu¬
schließen sei. Da nun im gegenwärtigen Augenblick die Parteien, wenn sie
Überhaupt noch bestehen, wenigstens nicht zu unmittelbarer Action berufen
sind, da sie vielmehr hinlängliche Muße haben, über sich selbst und ihre
Stellung zum Staate nachzudenken, so ist der Augenblick vielleicht nicht un¬
geeignet, die sonderbare Verwirrung, welche die Unruhen von in den
politischen Begriffen angerichtet haben, näher ins Auge zu fassen und zu
überlegen, ob sich nicht ein Leitfaden zum Verständniß derselben findet. Die
Schilderung der Elbinger Zustände, welche wir im vorigen Heft mittheilten
und in diesem fortsetzen, gibt uns dazu eine passende Veranlassung.

Gewiß haben sehr viele im Verlauf jener Jahre die überraschende Beobach¬
tung gemacht, daß sie ihre alten Freunde, mit denen sie sonst in Wünschen
und Ueberzeugungen vollständig Hand in Hand gingen, von denen sie aber
durch längere Abwesenheit getrennt waren, plötzlich auf einer entgegengesetzten
politischen Seite vorfanden, daß sie sich vergebens fragten, wer denn von
ihnen sich so völlig sollte geändert haben? und daß jeder Versuch der Ver¬
ständigung fehlschlug. Der Grund dieser Erscheinung ist wol der, daß man bei
dem Urtheil über die politische Parteibildung nur die principielle politische
Seite ins Auge faßt, die locale gesellschaftliche Entstehung derselben aber
vernachlässigt; und doch ist es fast überall so geschehen, daß der einzelne
sich in der Wahl seiner Partei durch seine Stellung innerhalb der wirklichen
localen Gesellschaft bestimmen ließ. Nur wenige sind so hoch oder so isolirt
gestellt, daß sie von diesen endlichen Voraussetzungen völlig abstrahiren können.
Nun gliedert sich naturgemäß in jeder Stadt die Gesellschaft in drei Kreise,
in einen erclusiven, einen oppositionellen und einen, der zwischen beiden zu
vermitteln sucht. Diese Kreise leben sich ineinander ein, es wird sich auch


Grenzboten. 18tu. II. 36
Demokratische Studien.

Ein berühmter Staatsmann hat sich einmal geäußert, daß die Demokratie,
richtig verstanden, innerhalb des preußischen Staatslebens ihre volle Berech¬
tigung habe, und daß nur die Partei der Doctrinärs von demselben auszu¬
schließen sei. Da nun im gegenwärtigen Augenblick die Parteien, wenn sie
Überhaupt noch bestehen, wenigstens nicht zu unmittelbarer Action berufen
sind, da sie vielmehr hinlängliche Muße haben, über sich selbst und ihre
Stellung zum Staate nachzudenken, so ist der Augenblick vielleicht nicht un¬
geeignet, die sonderbare Verwirrung, welche die Unruhen von in den
politischen Begriffen angerichtet haben, näher ins Auge zu fassen und zu
überlegen, ob sich nicht ein Leitfaden zum Verständniß derselben findet. Die
Schilderung der Elbinger Zustände, welche wir im vorigen Heft mittheilten
und in diesem fortsetzen, gibt uns dazu eine passende Veranlassung.

Gewiß haben sehr viele im Verlauf jener Jahre die überraschende Beobach¬
tung gemacht, daß sie ihre alten Freunde, mit denen sie sonst in Wünschen
und Ueberzeugungen vollständig Hand in Hand gingen, von denen sie aber
durch längere Abwesenheit getrennt waren, plötzlich auf einer entgegengesetzten
politischen Seite vorfanden, daß sie sich vergebens fragten, wer denn von
ihnen sich so völlig sollte geändert haben? und daß jeder Versuch der Ver¬
ständigung fehlschlug. Der Grund dieser Erscheinung ist wol der, daß man bei
dem Urtheil über die politische Parteibildung nur die principielle politische
Seite ins Auge faßt, die locale gesellschaftliche Entstehung derselben aber
vernachlässigt; und doch ist es fast überall so geschehen, daß der einzelne
sich in der Wahl seiner Partei durch seine Stellung innerhalb der wirklichen
localen Gesellschaft bestimmen ließ. Nur wenige sind so hoch oder so isolirt
gestellt, daß sie von diesen endlichen Voraussetzungen völlig abstrahiren können.
Nun gliedert sich naturgemäß in jeder Stadt die Gesellschaft in drei Kreise,
in einen erclusiven, einen oppositionellen und einen, der zwischen beiden zu
vermitteln sucht. Diese Kreise leben sich ineinander ein, es wird sich auch


Grenzboten. 18tu. II. 36
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0449" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98229"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Demokratische Studien.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1431"> Ein berühmter Staatsmann hat sich einmal geäußert, daß die Demokratie,<lb/>
richtig verstanden, innerhalb des preußischen Staatslebens ihre volle Berech¬<lb/>
tigung habe, und daß nur die Partei der Doctrinärs von demselben auszu¬<lb/>
schließen sei. Da nun im gegenwärtigen Augenblick die Parteien, wenn sie<lb/>
Überhaupt noch bestehen, wenigstens nicht zu unmittelbarer Action berufen<lb/>
sind, da sie vielmehr hinlängliche Muße haben, über sich selbst und ihre<lb/>
Stellung zum Staate nachzudenken, so ist der Augenblick vielleicht nicht un¬<lb/>
geeignet, die sonderbare Verwirrung, welche die Unruhen von in den<lb/>
politischen Begriffen angerichtet haben, näher ins Auge zu fassen und zu<lb/>
überlegen, ob sich nicht ein Leitfaden zum Verständniß derselben findet. Die<lb/>
Schilderung der Elbinger Zustände, welche wir im vorigen Heft mittheilten<lb/>
und in diesem fortsetzen, gibt uns dazu eine passende Veranlassung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1432" next="#ID_1433"> Gewiß haben sehr viele im Verlauf jener Jahre die überraschende Beobach¬<lb/>
tung gemacht, daß sie ihre alten Freunde, mit denen sie sonst in Wünschen<lb/>
und Ueberzeugungen vollständig Hand in Hand gingen, von denen sie aber<lb/>
durch längere Abwesenheit getrennt waren, plötzlich auf einer entgegengesetzten<lb/>
politischen Seite vorfanden, daß sie sich vergebens fragten, wer denn von<lb/>
ihnen sich so völlig sollte geändert haben? und daß jeder Versuch der Ver¬<lb/>
ständigung fehlschlug. Der Grund dieser Erscheinung ist wol der, daß man bei<lb/>
dem Urtheil über die politische Parteibildung nur die principielle politische<lb/>
Seite ins Auge faßt, die locale gesellschaftliche Entstehung derselben aber<lb/>
vernachlässigt; und doch ist es fast überall so geschehen, daß der einzelne<lb/>
sich in der Wahl seiner Partei durch seine Stellung innerhalb der wirklichen<lb/>
localen Gesellschaft bestimmen ließ. Nur wenige sind so hoch oder so isolirt<lb/>
gestellt, daß sie von diesen endlichen Voraussetzungen völlig abstrahiren können.<lb/>
Nun gliedert sich naturgemäß in jeder Stadt die Gesellschaft in drei Kreise,<lb/>
in einen erclusiven, einen oppositionellen und einen, der zwischen beiden zu<lb/>
vermitteln sucht. Diese Kreise leben sich ineinander ein, es wird sich auch</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. 18tu. II. 36</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0449] Demokratische Studien. Ein berühmter Staatsmann hat sich einmal geäußert, daß die Demokratie, richtig verstanden, innerhalb des preußischen Staatslebens ihre volle Berech¬ tigung habe, und daß nur die Partei der Doctrinärs von demselben auszu¬ schließen sei. Da nun im gegenwärtigen Augenblick die Parteien, wenn sie Überhaupt noch bestehen, wenigstens nicht zu unmittelbarer Action berufen sind, da sie vielmehr hinlängliche Muße haben, über sich selbst und ihre Stellung zum Staate nachzudenken, so ist der Augenblick vielleicht nicht un¬ geeignet, die sonderbare Verwirrung, welche die Unruhen von in den politischen Begriffen angerichtet haben, näher ins Auge zu fassen und zu überlegen, ob sich nicht ein Leitfaden zum Verständniß derselben findet. Die Schilderung der Elbinger Zustände, welche wir im vorigen Heft mittheilten und in diesem fortsetzen, gibt uns dazu eine passende Veranlassung. Gewiß haben sehr viele im Verlauf jener Jahre die überraschende Beobach¬ tung gemacht, daß sie ihre alten Freunde, mit denen sie sonst in Wünschen und Ueberzeugungen vollständig Hand in Hand gingen, von denen sie aber durch längere Abwesenheit getrennt waren, plötzlich auf einer entgegengesetzten politischen Seite vorfanden, daß sie sich vergebens fragten, wer denn von ihnen sich so völlig sollte geändert haben? und daß jeder Versuch der Ver¬ ständigung fehlschlug. Der Grund dieser Erscheinung ist wol der, daß man bei dem Urtheil über die politische Parteibildung nur die principielle politische Seite ins Auge faßt, die locale gesellschaftliche Entstehung derselben aber vernachlässigt; und doch ist es fast überall so geschehen, daß der einzelne sich in der Wahl seiner Partei durch seine Stellung innerhalb der wirklichen localen Gesellschaft bestimmen ließ. Nur wenige sind so hoch oder so isolirt gestellt, daß sie von diesen endlichen Voraussetzungen völlig abstrahiren können. Nun gliedert sich naturgemäß in jeder Stadt die Gesellschaft in drei Kreise, in einen erclusiven, einen oppositionellen und einen, der zwischen beiden zu vermitteln sucht. Diese Kreise leben sich ineinander ein, es wird sich auch Grenzboten. 18tu. II. 36

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/448
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/448>, abgerufen am 27.05.2024.