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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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bestehenden sittlichen Verhältnisse, mag dieser Vater sein wie er will, und von
diesem Standpunkt aus werden wir das leichtsinnige Verhalten Jessicas zu den
weiteren Schicksalen ihres Vaters beinahe mit dem Ausdruck Rohheit bezeichnen
können. Freilich ist der alte Jude selbst daran schuld, daß seine Tochter keine
Pietät gegen ihn hat; aber das hebt den Conflict nicht auf. Allein Shakespeare
hat in diesem Fall -- und das hat Ulrici übersehe" -- auf den Ernst des sitt¬
lichen Verhältnisses gar nicht angespielt; er behandelt die ganze Sache komisch,
und in der eigentlichen Komödie müssen wir die Sittlichkeit nicht aus die Gold¬
wage legen. Hier liegt wieder viel Schuld an unsern Schauspielern. Wir haben
mehre Shyloks gesehen, die, wenn sie auf ihre Familienverhältnisse zu sprechen
kamen, plötzlich in ein tiefes Gefühl ausbrachen. Ein einziger solcher Zug reicht
hin, um uns in unserer Unbefangenheit zu stören. Sobald wir in Shylock einen
sittlichen Zug vernehmen, empfinden wir Mitleid und beschäftigen uns mit der Frage
nach Recht und Unrecht. Erscheint er uns dagegen blos als ein bösartiger Hanswurst,
so freuen wir uns darüber, daß ihm ein Posse" gespielt wird, und die Frage, ob
Jessica Recht oder Unrecht hat, kommt "no gar nicht in den Sinn.




Politische Broschüren.

Actenstücke der russischen Diplomatie, herausgegeben und eingeleitet von
Friedrich Paalzow. -I. Lieferung. Berlin, Franz Duncker. --

Wir sprachen im vorigen Heft den Wunsch aus, daß die vielfachen, höchst
wichtigen Actenstücke, welche in Beziehung auf die russische Politik im Lauf des
vergangenen Jahres der Oeffentlichkeit preisgegeben sind, in einer möglichst voll¬
ständige" Sammlung vereinigt werden möchten. . Mittlerweile ist die vorliegende
erste Lieferung erschienen, welche sich denselben Zweck setzt. Sie enthält das ge¬
heime Rundschreiben an die diplomatischen Vertreter des russischen Cabinets in
Deutschland vom Jahre 1834, die russische Denkschrift in Beziehung auf die
Febrnarrevolutiou, die Denkschrift vom 10. Februar 18S0, und das politische Te¬
stament Peter des Großen, vier Actenstücke, die uns eine klare Einsicht in die
zusammenhängende und consequente Politik Rußlands und ihren verderblichen Einfluß
ans Deutschland eröffnen. Wir behalten uns vor, auf den Inhalt derselben bei Ge¬
legenheit der nächsten Lieferung näher einzugehen, hier wollen wir nur eine Be¬
merkung über die Partei in der Presse, von der die Veröffentlichung ausgeht, daran
knüpfen.

Herr Paalzow gehört, wenn wir nicht irren, zu den eifrigsten Mitarbeitern
der Nationalzeirnng, die wol überhaupt in der Mittheilung der russischen Acten¬
stücke am vollständigsten gewesen ist. Wir haben mehrmals Gelegenheit gehabt,


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bestehenden sittlichen Verhältnisse, mag dieser Vater sein wie er will, und von
diesem Standpunkt aus werden wir das leichtsinnige Verhalten Jessicas zu den
weiteren Schicksalen ihres Vaters beinahe mit dem Ausdruck Rohheit bezeichnen
können. Freilich ist der alte Jude selbst daran schuld, daß seine Tochter keine
Pietät gegen ihn hat; aber das hebt den Conflict nicht auf. Allein Shakespeare
hat in diesem Fall — und das hat Ulrici übersehe» — auf den Ernst des sitt¬
lichen Verhältnisses gar nicht angespielt; er behandelt die ganze Sache komisch,
und in der eigentlichen Komödie müssen wir die Sittlichkeit nicht aus die Gold¬
wage legen. Hier liegt wieder viel Schuld an unsern Schauspielern. Wir haben
mehre Shyloks gesehen, die, wenn sie auf ihre Familienverhältnisse zu sprechen
kamen, plötzlich in ein tiefes Gefühl ausbrachen. Ein einziger solcher Zug reicht
hin, um uns in unserer Unbefangenheit zu stören. Sobald wir in Shylock einen
sittlichen Zug vernehmen, empfinden wir Mitleid und beschäftigen uns mit der Frage
nach Recht und Unrecht. Erscheint er uns dagegen blos als ein bösartiger Hanswurst,
so freuen wir uns darüber, daß ihm ein Posse» gespielt wird, und die Frage, ob
Jessica Recht oder Unrecht hat, kommt »no gar nicht in den Sinn.




Politische Broschüren.

Actenstücke der russischen Diplomatie, herausgegeben und eingeleitet von
Friedrich Paalzow. -I. Lieferung. Berlin, Franz Duncker. —

Wir sprachen im vorigen Heft den Wunsch aus, daß die vielfachen, höchst
wichtigen Actenstücke, welche in Beziehung auf die russische Politik im Lauf des
vergangenen Jahres der Oeffentlichkeit preisgegeben sind, in einer möglichst voll¬
ständige» Sammlung vereinigt werden möchten. . Mittlerweile ist die vorliegende
erste Lieferung erschienen, welche sich denselben Zweck setzt. Sie enthält das ge¬
heime Rundschreiben an die diplomatischen Vertreter des russischen Cabinets in
Deutschland vom Jahre 1834, die russische Denkschrift in Beziehung auf die
Febrnarrevolutiou, die Denkschrift vom 10. Februar 18S0, und das politische Te¬
stament Peter des Großen, vier Actenstücke, die uns eine klare Einsicht in die
zusammenhängende und consequente Politik Rußlands und ihren verderblichen Einfluß
ans Deutschland eröffnen. Wir behalten uns vor, auf den Inhalt derselben bei Ge¬
legenheit der nächsten Lieferung näher einzugehen, hier wollen wir nur eine Be¬
merkung über die Partei in der Presse, von der die Veröffentlichung ausgeht, daran
knüpfen.

Herr Paalzow gehört, wenn wir nicht irren, zu den eifrigsten Mitarbeitern
der Nationalzeirnng, die wol überhaupt in der Mittheilung der russischen Acten¬
stücke am vollständigsten gewesen ist. Wir haben mehrmals Gelegenheit gehabt,


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[0059] bestehenden sittlichen Verhältnisse, mag dieser Vater sein wie er will, und von diesem Standpunkt aus werden wir das leichtsinnige Verhalten Jessicas zu den weiteren Schicksalen ihres Vaters beinahe mit dem Ausdruck Rohheit bezeichnen können. Freilich ist der alte Jude selbst daran schuld, daß seine Tochter keine Pietät gegen ihn hat; aber das hebt den Conflict nicht auf. Allein Shakespeare hat in diesem Fall — und das hat Ulrici übersehe» — auf den Ernst des sitt¬ lichen Verhältnisses gar nicht angespielt; er behandelt die ganze Sache komisch, und in der eigentlichen Komödie müssen wir die Sittlichkeit nicht aus die Gold¬ wage legen. Hier liegt wieder viel Schuld an unsern Schauspielern. Wir haben mehre Shyloks gesehen, die, wenn sie auf ihre Familienverhältnisse zu sprechen kamen, plötzlich in ein tiefes Gefühl ausbrachen. Ein einziger solcher Zug reicht hin, um uns in unserer Unbefangenheit zu stören. Sobald wir in Shylock einen sittlichen Zug vernehmen, empfinden wir Mitleid und beschäftigen uns mit der Frage nach Recht und Unrecht. Erscheint er uns dagegen blos als ein bösartiger Hanswurst, so freuen wir uns darüber, daß ihm ein Posse» gespielt wird, und die Frage, ob Jessica Recht oder Unrecht hat, kommt »no gar nicht in den Sinn. Politische Broschüren. Actenstücke der russischen Diplomatie, herausgegeben und eingeleitet von Friedrich Paalzow. -I. Lieferung. Berlin, Franz Duncker. — Wir sprachen im vorigen Heft den Wunsch aus, daß die vielfachen, höchst wichtigen Actenstücke, welche in Beziehung auf die russische Politik im Lauf des vergangenen Jahres der Oeffentlichkeit preisgegeben sind, in einer möglichst voll¬ ständige» Sammlung vereinigt werden möchten. . Mittlerweile ist die vorliegende erste Lieferung erschienen, welche sich denselben Zweck setzt. Sie enthält das ge¬ heime Rundschreiben an die diplomatischen Vertreter des russischen Cabinets in Deutschland vom Jahre 1834, die russische Denkschrift in Beziehung auf die Febrnarrevolutiou, die Denkschrift vom 10. Februar 18S0, und das politische Te¬ stament Peter des Großen, vier Actenstücke, die uns eine klare Einsicht in die zusammenhängende und consequente Politik Rußlands und ihren verderblichen Einfluß ans Deutschland eröffnen. Wir behalten uns vor, auf den Inhalt derselben bei Ge¬ legenheit der nächsten Lieferung näher einzugehen, hier wollen wir nur eine Be¬ merkung über die Partei in der Presse, von der die Veröffentlichung ausgeht, daran knüpfen. Herr Paalzow gehört, wenn wir nicht irren, zu den eifrigsten Mitarbeitern der Nationalzeirnng, die wol überhaupt in der Mittheilung der russischen Acten¬ stücke am vollständigsten gewesen ist. Wir haben mehrmals Gelegenheit gehabt, 7 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/58>, abgerufen am 27.05.2024.