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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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Sommers ist kaum zu erwarten, daß auch das größte taktische Talent des
commandirenden russischen Generals einer Desorganisation der Truppen steuern
wird, selbst für den Fall, daß der Mangel an Lebensmitteln und Kriegs¬
bedürfnissen nicht eine vollständige Auflösung oder Unterwerfung unter die Geg¬
ner herbeiführt. Unterdeß ist die alliirte Armee zu jeder Zeit im Stande, die
Verluste des letzten Jahres zu ergänzen, fortwährend finden neue Truppen¬
sendungen nach der Krim statt, bereits liegt Paris und London näher an
Sebastopol, als Nikolajew, und die Armee der Verbündeten, durch die letzten
Siege gehoben und durch die Erfahrungen des vergangenen Winters gewitzigt,
wird im nächsten Frühjahr wahrscheinlich in größrer Stärke und Kriegstüchtig¬
keit den Russen gegenüberstehen. So dürsten die Russen, geschmolzen und
desorganisirt, durch die Winterruhe im Frühjahr nach Aufwendung der größten
Menschenopfer vielleicht gar nicht mehr im Stande sein, einen geordneten Rück¬
zug über die Landenge von Perekop zu bewerkstelligen. ES ist wahrscheinlich,
daß der russische Stolz den Entschluß gefaßt hat, alles Mögliche zu wagen,
bevor in so eclatanter Weise die Krim von ihnen aufgegeben wird; aber es
ist doch anzunehmen, daß im letzten Augenblick der Zwang unwillkommener
Thatsachen diesen Rückzug nöthig macht.

Unterdeß hat das letzte Jahr in der That ein Resultat gehabt, welches
bei weitem größer ist, als die Einnahme von Sebastopol, vielleicht größer,
als irgendein Ereigniß in der Kriegsgeschichte der letzten vierzig Jahre: Es
hat die Ueberzeugung von der militärischen Schwäche Rußlands trotz seiner
gegenwärtigen Militärverfassung in Europa allgemein gemacht. Und diese
Ueberzeugung ist hier in den sogenannten wohlunterrichteten Kreisen viel sicherer,
denn man kennt dort die stillen Verluste Rußlands viel besser, als im Publi-
cum. Der militärische Zauber, welchen Rußland durch vierzig Jahre auf Preu¬
ßen ausübte, ist jetzt gebrochen. Und zwar sind es nicht die Krimvcrluste allein,
ja nicht diese zumeist, welche eine solche Ansicht begründet haben. Denn die
Russen haben sich brav geschlagen und die Feldtüchtigkeit der Armee hat un¬
gefähr den Erwartungen entsprochen, welche die unterrichteten preußischen Ge¬
nerale nach vieljähriger Beobachtung von ihr hatten. Eine gute Artillerie,
eine geduldige und ausdauernde Infanterie, einzelne Theile der Cavalerie vor¬
trefflich, aber die ganze Armee ohne die elastische Thatkraft, welche höher cul-
tivirten Nationen eigen ist. Dazu kam, daß die russischen Commandeure zwar
kein eminentes militärisches Talent in ihrem Stäbe besaßen, aber immerhin
nicht mehr Fehler gemacht haben, als den Generalen der Verbündeten zur Last
fallen. Das Neue ist also nicht die Jnferioritiit der Krimarmee, sondern die Ver¬
wüstung in Menschenmaterial und den Truppenmassen, welche durch ganz Ru߬
land stattgefunden hat. So sorgfältig man russischerseits diese ungeheuern Ver¬
luste uns zu verhehlen suchte, es drang doch mehr als eine zuverlässige Nachricht


Sommers ist kaum zu erwarten, daß auch das größte taktische Talent des
commandirenden russischen Generals einer Desorganisation der Truppen steuern
wird, selbst für den Fall, daß der Mangel an Lebensmitteln und Kriegs¬
bedürfnissen nicht eine vollständige Auflösung oder Unterwerfung unter die Geg¬
ner herbeiführt. Unterdeß ist die alliirte Armee zu jeder Zeit im Stande, die
Verluste des letzten Jahres zu ergänzen, fortwährend finden neue Truppen¬
sendungen nach der Krim statt, bereits liegt Paris und London näher an
Sebastopol, als Nikolajew, und die Armee der Verbündeten, durch die letzten
Siege gehoben und durch die Erfahrungen des vergangenen Winters gewitzigt,
wird im nächsten Frühjahr wahrscheinlich in größrer Stärke und Kriegstüchtig¬
keit den Russen gegenüberstehen. So dürsten die Russen, geschmolzen und
desorganisirt, durch die Winterruhe im Frühjahr nach Aufwendung der größten
Menschenopfer vielleicht gar nicht mehr im Stande sein, einen geordneten Rück¬
zug über die Landenge von Perekop zu bewerkstelligen. ES ist wahrscheinlich,
daß der russische Stolz den Entschluß gefaßt hat, alles Mögliche zu wagen,
bevor in so eclatanter Weise die Krim von ihnen aufgegeben wird; aber es
ist doch anzunehmen, daß im letzten Augenblick der Zwang unwillkommener
Thatsachen diesen Rückzug nöthig macht.

Unterdeß hat das letzte Jahr in der That ein Resultat gehabt, welches
bei weitem größer ist, als die Einnahme von Sebastopol, vielleicht größer,
als irgendein Ereigniß in der Kriegsgeschichte der letzten vierzig Jahre: Es
hat die Ueberzeugung von der militärischen Schwäche Rußlands trotz seiner
gegenwärtigen Militärverfassung in Europa allgemein gemacht. Und diese
Ueberzeugung ist hier in den sogenannten wohlunterrichteten Kreisen viel sicherer,
denn man kennt dort die stillen Verluste Rußlands viel besser, als im Publi-
cum. Der militärische Zauber, welchen Rußland durch vierzig Jahre auf Preu¬
ßen ausübte, ist jetzt gebrochen. Und zwar sind es nicht die Krimvcrluste allein,
ja nicht diese zumeist, welche eine solche Ansicht begründet haben. Denn die
Russen haben sich brav geschlagen und die Feldtüchtigkeit der Armee hat un¬
gefähr den Erwartungen entsprochen, welche die unterrichteten preußischen Ge¬
nerale nach vieljähriger Beobachtung von ihr hatten. Eine gute Artillerie,
eine geduldige und ausdauernde Infanterie, einzelne Theile der Cavalerie vor¬
trefflich, aber die ganze Armee ohne die elastische Thatkraft, welche höher cul-
tivirten Nationen eigen ist. Dazu kam, daß die russischen Commandeure zwar
kein eminentes militärisches Talent in ihrem Stäbe besaßen, aber immerhin
nicht mehr Fehler gemacht haben, als den Generalen der Verbündeten zur Last
fallen. Das Neue ist also nicht die Jnferioritiit der Krimarmee, sondern die Ver¬
wüstung in Menschenmaterial und den Truppenmassen, welche durch ganz Ru߬
land stattgefunden hat. So sorgfältig man russischerseits diese ungeheuern Ver¬
luste uns zu verhehlen suchte, es drang doch mehr als eine zuverlässige Nachricht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/198>, abgerufen am 12.05.2024.