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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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schein hat, Berlin zu einem bewegten Kampfplatz machen. Der Oberseldherr
selbst wird, wie wir hören, sein Hauptquartier Weimar verlassen und den
Berlinern einen Besuch abstatten; außer dem Tannhäuser steht ein Cyklus von
Concerten in Aussicht, die uns ausschließlich neueste Musik, wenngleich mit
Vorsicht gewählt, zum Besten geben werden; kurz, die Versuche beginnen,
Berlin zu modernisiren. Die Ausführung der Instrumentalmusik ist im Ganzen,
obschon Berlin wenig Virtuosen ersten Ranges besitzt, sehr gut, weil es reich
ist an Musikern, die, ohne der Welt durch ihre Leistungen zu imponiren, das
für classische Musik erforderliche Maß der Technik besitzen.

Die Symphoniesoirsen unter der Leitung Tauberts stehen an der Spitze
unsrer Concerte, theils durch ihren Inhalt, theils durch die Trefflichkeit der Aus¬
führung, theils durch die noch immer ungeschwächte Theilnahme des Publicums.
Was den letzten Punkt betrifft, so läßt sich schon hier die Bemerkung nicht
unterdrücken, daß viele besser thun würden, sich mit andrer Art von Musik
zu beschäftigen, die dem natürlichen Verständniß näher liegt. Spricht auch
die Symphonie eine lautere, deutlichere Sprache, als etwa das fein gearbeitete,
auf mächtige und mannigfaltige Klangwirkung verzichtende Quartett, so bleibt
doch auch sie ein Fremdes für den nicht durch besonderes Talent oder durch
stete musikalische Thätigkeit dafür befähigten Sinn; aber in der Musik ist es
ja weit mehr nochmals in der Literatur Sitte, den Gegenstand ganz ohne alle
Methode kennen zu lernen, so sehr Sitte, daß die wenigsten auch nicht aus
den Gedanken kommen, es könne die Ordnung und Reihenfolge, in der ich
die musikalischen Kunstwerke kennen lerne, irgendeinen Unterschied machen.
Es ist dies ein Gesichtspunkt, der noch sowenig erörtert worden, daß man bei
dem Vorsatz, sich den Stoff einmal ernstlich und gründlich zurechtzulegen, fast
erschrecken möchte; so brach liegt dies Feld, sowenig wurde vorgearbeitet. --
Die Ausführung der Symphonien durch die k. Kapelle ist correct und fein
nüancirt. Man könnte hier und da vielleicht eine zu große Absichtlichkeit in
den Nüancen, z. B. in dem Glänzen mit künstlichem Pianissimo :c,, rügen,
in andern Beziehungen wäre vielleicht noch mehr Kühnheit der Auffassung zu
wünschen, mehr Unabhängigkeit von dem Aeußern, Vorgeschriebenen des musika¬
lischen Stoffs, doch geben wir gern zu, daß diese höchste Eigenschaft des Vertrags
bei großen Orchestern oder Chören die Grenzen des Erreichbaren fast über¬
schreitet und bei symphonischen Werken weniger nöthig sei, als bei Solo¬
leistungen. Im Uebrigen ist die Klangmasse des berliner Orchesters von großer
musikaUscher Schönheit, kräftig und voll, zart und weich. --Dem Inhalt nach stehen
unsre Symphvnieconcerte aus dem Boden der classischen Musik. Beethovens Sym¬
phonien, mit Ausschluß der neunten, zwei bis drei Symphonien von Mozart
einige von Haydn, mit freierer Auswahl aus dem reichen Schatz seiner Werke,
sind der feste Bestand, an dem mit Recht nicht gerüttelt wird, weil sie die


schein hat, Berlin zu einem bewegten Kampfplatz machen. Der Oberseldherr
selbst wird, wie wir hören, sein Hauptquartier Weimar verlassen und den
Berlinern einen Besuch abstatten; außer dem Tannhäuser steht ein Cyklus von
Concerten in Aussicht, die uns ausschließlich neueste Musik, wenngleich mit
Vorsicht gewählt, zum Besten geben werden; kurz, die Versuche beginnen,
Berlin zu modernisiren. Die Ausführung der Instrumentalmusik ist im Ganzen,
obschon Berlin wenig Virtuosen ersten Ranges besitzt, sehr gut, weil es reich
ist an Musikern, die, ohne der Welt durch ihre Leistungen zu imponiren, das
für classische Musik erforderliche Maß der Technik besitzen.

Die Symphoniesoirsen unter der Leitung Tauberts stehen an der Spitze
unsrer Concerte, theils durch ihren Inhalt, theils durch die Trefflichkeit der Aus¬
führung, theils durch die noch immer ungeschwächte Theilnahme des Publicums.
Was den letzten Punkt betrifft, so läßt sich schon hier die Bemerkung nicht
unterdrücken, daß viele besser thun würden, sich mit andrer Art von Musik
zu beschäftigen, die dem natürlichen Verständniß näher liegt. Spricht auch
die Symphonie eine lautere, deutlichere Sprache, als etwa das fein gearbeitete,
auf mächtige und mannigfaltige Klangwirkung verzichtende Quartett, so bleibt
doch auch sie ein Fremdes für den nicht durch besonderes Talent oder durch
stete musikalische Thätigkeit dafür befähigten Sinn; aber in der Musik ist es
ja weit mehr nochmals in der Literatur Sitte, den Gegenstand ganz ohne alle
Methode kennen zu lernen, so sehr Sitte, daß die wenigsten auch nicht aus
den Gedanken kommen, es könne die Ordnung und Reihenfolge, in der ich
die musikalischen Kunstwerke kennen lerne, irgendeinen Unterschied machen.
Es ist dies ein Gesichtspunkt, der noch sowenig erörtert worden, daß man bei
dem Vorsatz, sich den Stoff einmal ernstlich und gründlich zurechtzulegen, fast
erschrecken möchte; so brach liegt dies Feld, sowenig wurde vorgearbeitet. —
Die Ausführung der Symphonien durch die k. Kapelle ist correct und fein
nüancirt. Man könnte hier und da vielleicht eine zu große Absichtlichkeit in
den Nüancen, z. B. in dem Glänzen mit künstlichem Pianissimo :c,, rügen,
in andern Beziehungen wäre vielleicht noch mehr Kühnheit der Auffassung zu
wünschen, mehr Unabhängigkeit von dem Aeußern, Vorgeschriebenen des musika¬
lischen Stoffs, doch geben wir gern zu, daß diese höchste Eigenschaft des Vertrags
bei großen Orchestern oder Chören die Grenzen des Erreichbaren fast über¬
schreitet und bei symphonischen Werken weniger nöthig sei, als bei Solo¬
leistungen. Im Uebrigen ist die Klangmasse des berliner Orchesters von großer
musikaUscher Schönheit, kräftig und voll, zart und weich. —Dem Inhalt nach stehen
unsre Symphvnieconcerte aus dem Boden der classischen Musik. Beethovens Sym¬
phonien, mit Ausschluß der neunten, zwei bis drei Symphonien von Mozart
einige von Haydn, mit freierer Auswahl aus dem reichen Schatz seiner Werke,
sind der feste Bestand, an dem mit Recht nicht gerüttelt wird, weil sie die


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[0037] schein hat, Berlin zu einem bewegten Kampfplatz machen. Der Oberseldherr selbst wird, wie wir hören, sein Hauptquartier Weimar verlassen und den Berlinern einen Besuch abstatten; außer dem Tannhäuser steht ein Cyklus von Concerten in Aussicht, die uns ausschließlich neueste Musik, wenngleich mit Vorsicht gewählt, zum Besten geben werden; kurz, die Versuche beginnen, Berlin zu modernisiren. Die Ausführung der Instrumentalmusik ist im Ganzen, obschon Berlin wenig Virtuosen ersten Ranges besitzt, sehr gut, weil es reich ist an Musikern, die, ohne der Welt durch ihre Leistungen zu imponiren, das für classische Musik erforderliche Maß der Technik besitzen. Die Symphoniesoirsen unter der Leitung Tauberts stehen an der Spitze unsrer Concerte, theils durch ihren Inhalt, theils durch die Trefflichkeit der Aus¬ führung, theils durch die noch immer ungeschwächte Theilnahme des Publicums. Was den letzten Punkt betrifft, so läßt sich schon hier die Bemerkung nicht unterdrücken, daß viele besser thun würden, sich mit andrer Art von Musik zu beschäftigen, die dem natürlichen Verständniß näher liegt. Spricht auch die Symphonie eine lautere, deutlichere Sprache, als etwa das fein gearbeitete, auf mächtige und mannigfaltige Klangwirkung verzichtende Quartett, so bleibt doch auch sie ein Fremdes für den nicht durch besonderes Talent oder durch stete musikalische Thätigkeit dafür befähigten Sinn; aber in der Musik ist es ja weit mehr nochmals in der Literatur Sitte, den Gegenstand ganz ohne alle Methode kennen zu lernen, so sehr Sitte, daß die wenigsten auch nicht aus den Gedanken kommen, es könne die Ordnung und Reihenfolge, in der ich die musikalischen Kunstwerke kennen lerne, irgendeinen Unterschied machen. Es ist dies ein Gesichtspunkt, der noch sowenig erörtert worden, daß man bei dem Vorsatz, sich den Stoff einmal ernstlich und gründlich zurechtzulegen, fast erschrecken möchte; so brach liegt dies Feld, sowenig wurde vorgearbeitet. — Die Ausführung der Symphonien durch die k. Kapelle ist correct und fein nüancirt. Man könnte hier und da vielleicht eine zu große Absichtlichkeit in den Nüancen, z. B. in dem Glänzen mit künstlichem Pianissimo :c,, rügen, in andern Beziehungen wäre vielleicht noch mehr Kühnheit der Auffassung zu wünschen, mehr Unabhängigkeit von dem Aeußern, Vorgeschriebenen des musika¬ lischen Stoffs, doch geben wir gern zu, daß diese höchste Eigenschaft des Vertrags bei großen Orchestern oder Chören die Grenzen des Erreichbaren fast über¬ schreitet und bei symphonischen Werken weniger nöthig sei, als bei Solo¬ leistungen. Im Uebrigen ist die Klangmasse des berliner Orchesters von großer musikaUscher Schönheit, kräftig und voll, zart und weich. —Dem Inhalt nach stehen unsre Symphvnieconcerte aus dem Boden der classischen Musik. Beethovens Sym¬ phonien, mit Ausschluß der neunten, zwei bis drei Symphonien von Mozart einige von Haydn, mit freierer Auswahl aus dem reichen Schatz seiner Werke, sind der feste Bestand, an dem mit Recht nicht gerüttelt wird, weil sie die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/37>, abgerufen am 09.05.2024.