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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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dieser beiden Momente ist von einer so zarten Organisation, daß der mytho¬
logische Anatom sein Messer mit einiger Vorsicht anwenden sollte.

Bei den folgenden Romanen, so ungleich sie an Werth sind und sowenig
sie in Masse sich über die gewöhnliche Unterhaltungslcctüre erheben, müssen
wir doch wahrnehmen, daß diese Gattung seit den letzten zwanzig Jahre" be¬
deutende Fortschritte gemacht hat. Sie sind durchgehends in einem leidlichen
Stil geschrieben und mit einigem Geschick componirt. -- Der Roman von
Schrader behandelt einen schon mehrfach bearbeiteten Stoff. Ein zum Tode
Verurtheilter verheirathet sich in 5en letzten Augenblicken, nun wird er aber
begnadigt und eS ergeben sich aus dieser unerwarteten Wendung die wunder¬
lichsten Conflicte. Der Verfasser hat den Fehler gemacht, nachträglich zu viel
fremdartige Intriguen eingeführt zu haben, wodurch das Interesse mehr verwirrt,
als gefördert wird. -- Die Erinnerungen aus Teras sind in Bezug auf die
eigentlichen Schilderungen, namentlich auf die Jagdgeschichten, durchaus lobens-
werth. Die Gegenstände drängen sich frisch und lebendig der Phantasie auf
und man folgt auch den wunderlichsten Verwicklungen mit Behagen. Der
novellistische Theil dagegen ist an diese Schilderungen mehr angeklebt, als or¬
ganisch hineinverwebt; und dabei ist er ziemlich manierirt behandelt und die
darin vorkommenden Greuelthaten passen nicht zu der heitern Stimmung der
Jagdgeschichten. -- Die Selbstbekenntnisse eines Arztes, die übrigens mit
den vorliegenden zwei Bänden noch nicht vollendet sind, scheinen wirkliche Me¬
moiren zu sein und wir hätten nur gewünscht, daß der Verfasser sie auch in
der Form strenger als solche behandelt und allen belletristischen Aufputz ver¬
schmäht hätte. Vielfache Sünden der medicinischen Praris werden schonungs¬
los enthüllt und man kann viel daraus lernen; aber zur Unterhaltungslectürc
sind diese widerwärtigen Geschichten nicht geeignet.

Unter den englischen Romanen ist Aubry in der bekannten Weise der
Verfasserin gehalten, die durch ihre zahlreichen Romane, namentlich durch
"Ensilie Windham" sich den Beifall des lescbedürftigen Publicums erworben
hat. Sie ist im Stande, in einzelnen Scenen starke Gefühle hervorzurufen,
und entwickelt zuweilen einen feinen psychologischen Blick; aber in der Erzäh¬
lung ist sie incorrect, und ihre Gestalten und Begebenheiten drängen sich zu¬
weilen unorganisch durcheinander. Der Gegensatz zwischen dem leichtsinnigen,
aber gemüthlichen Lebemann und der reflectirten Natur, die hinter dem Anschein
der Kälte starke Leidenschaften versteckt, ist glücklich erdacht, aber leider auf eine
unbefriedigende Weise aufgelöst; denn es ist dem Zufall eine zu große Rolle
gegeben, und wenn man zum Schluß auch sämmtliche Personen bemitleidet,
so scheidet man doch von ihnen mit einem ziemlich mäßigen Interesse. -- Vor¬
trefflich ist die Geschichte von den schottischen Musketieren aus dem dreißig¬
jährigen Kriege. In der Komposition erreicht sie zwar das Vorbild, W. Scott,


dieser beiden Momente ist von einer so zarten Organisation, daß der mytho¬
logische Anatom sein Messer mit einiger Vorsicht anwenden sollte.

Bei den folgenden Romanen, so ungleich sie an Werth sind und sowenig
sie in Masse sich über die gewöhnliche Unterhaltungslcctüre erheben, müssen
wir doch wahrnehmen, daß diese Gattung seit den letzten zwanzig Jahre» be¬
deutende Fortschritte gemacht hat. Sie sind durchgehends in einem leidlichen
Stil geschrieben und mit einigem Geschick componirt. — Der Roman von
Schrader behandelt einen schon mehrfach bearbeiteten Stoff. Ein zum Tode
Verurtheilter verheirathet sich in 5en letzten Augenblicken, nun wird er aber
begnadigt und eS ergeben sich aus dieser unerwarteten Wendung die wunder¬
lichsten Conflicte. Der Verfasser hat den Fehler gemacht, nachträglich zu viel
fremdartige Intriguen eingeführt zu haben, wodurch das Interesse mehr verwirrt,
als gefördert wird. — Die Erinnerungen aus Teras sind in Bezug auf die
eigentlichen Schilderungen, namentlich auf die Jagdgeschichten, durchaus lobens-
werth. Die Gegenstände drängen sich frisch und lebendig der Phantasie auf
und man folgt auch den wunderlichsten Verwicklungen mit Behagen. Der
novellistische Theil dagegen ist an diese Schilderungen mehr angeklebt, als or¬
ganisch hineinverwebt; und dabei ist er ziemlich manierirt behandelt und die
darin vorkommenden Greuelthaten passen nicht zu der heitern Stimmung der
Jagdgeschichten. — Die Selbstbekenntnisse eines Arztes, die übrigens mit
den vorliegenden zwei Bänden noch nicht vollendet sind, scheinen wirkliche Me¬
moiren zu sein und wir hätten nur gewünscht, daß der Verfasser sie auch in
der Form strenger als solche behandelt und allen belletristischen Aufputz ver¬
schmäht hätte. Vielfache Sünden der medicinischen Praris werden schonungs¬
los enthüllt und man kann viel daraus lernen; aber zur Unterhaltungslectürc
sind diese widerwärtigen Geschichten nicht geeignet.

Unter den englischen Romanen ist Aubry in der bekannten Weise der
Verfasserin gehalten, die durch ihre zahlreichen Romane, namentlich durch
„Ensilie Windham" sich den Beifall des lescbedürftigen Publicums erworben
hat. Sie ist im Stande, in einzelnen Scenen starke Gefühle hervorzurufen,
und entwickelt zuweilen einen feinen psychologischen Blick; aber in der Erzäh¬
lung ist sie incorrect, und ihre Gestalten und Begebenheiten drängen sich zu¬
weilen unorganisch durcheinander. Der Gegensatz zwischen dem leichtsinnigen,
aber gemüthlichen Lebemann und der reflectirten Natur, die hinter dem Anschein
der Kälte starke Leidenschaften versteckt, ist glücklich erdacht, aber leider auf eine
unbefriedigende Weise aufgelöst; denn es ist dem Zufall eine zu große Rolle
gegeben, und wenn man zum Schluß auch sämmtliche Personen bemitleidet,
so scheidet man doch von ihnen mit einem ziemlich mäßigen Interesse. — Vor¬
trefflich ist die Geschichte von den schottischen Musketieren aus dem dreißig¬
jährigen Kriege. In der Komposition erreicht sie zwar das Vorbild, W. Scott,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/112>, abgerufen am 27.05.2024.