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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Modifikation der Verträge betrifft, so hat es sich ja im gegenwärtigen Augen¬
blicke gezeigt, daß diese keine sonderlichen Stützen sind, und bei einer günstigen
Conjunctur können die alten Ansprüche immer wieder aufgenommen werden;
an einer passenden Gelegenheit wird es beim guten Willen nicht fehlen. Das
absolute Nachgeben ist also von Seiten deö russischen Kaisers der weiseste Ent¬
schluß, und wenn wir trotzdem davon überrascht wurden, so war es nur, weil
wir annahmen, das stolze, sehr natürliche Selbstgefühl werde über die ruhige
Ueberlegung siegen. Aber dies Mal war wider Vermuthen der kluge und
stolze Herrscher klug genug, nicht stolz zu sein.

Auf der andern Seite haben zwei von den verbündeten Mächten für sich
selbst bereits erreicht, was zu erreichen war, Frankreich und Oestreich. Der
Kaiser Napoleon ist jetzt als guter Bruder der alten legitimen Herrscher aner¬
kannt, er steht mit Oestreich in einem mehr als herzlichen EinVerständniß, an
eine wirkliche Gebietserweiterung im Orient kann er nicht denken und von der
Machterweiterung Rußlands hat Frankreich unmittelbar am wenigsten zu fürchten.
Es liegt also von dieser Seite kein Grund vor, eine Fortsetzung des Krieges leb¬
haft zu wünschen. Oestreich, auch wenn es nicht die alleinige Protection der
Donaufürstenthümer erwirbt, hat doch einen sehr bedeutenden Gewinn bereits
davongetragen. Sein Ansehen im Orient ist ungeheuer vergrößert, und seine
Stellung innerhalb des deutschen Bundes ist namentlich im Verhältniß zu
Preußen sehr viel günstiger geworden. Schon trägt man sich im Publicum
mit der Idee einer Wiederherstellung des Kaiserreichs, eine Ji?ce, die freilich in
das Reich der Illusionen gehört, die aber doch verräth, nach welcher Seite die
Sympathien sich gewandt haben (so z. B. in einer neuen Broschüre: Deutsch¬
lands Aussichten im Jahre 18Sö und in den nächsten zehn Jahren, Schwäbisch-
Hall, Haspel).

Anders steht freilich die Sache um England. Wenn durch den gegen¬
wärtigen Krieg Rußlands Macht nicht wirklich geschwächt wird, so steht das
britische Reich wieder in Gefahr einer neuen Jsolirung. Außerdem hat es
sehr bedeutende Opfer gebracht, und ein Ministerium, welches nach den
drei blutigen Schlachten in der Krim einen Frieden in den angegebenen Be¬
dingungen schlösse, würde unzweifelhaft am Vorabend seines Falls stehen. Von
dieser Seite würden wir uns eine Nachgiebigkeit auch nur daraus erklären
können, daß die Regierung an die Zuverlässigkeit ihrer Alliirten nicht glaubt,
und daß sie sich allein außer Staude sieht, den Krieg fortzuführen. Der
abenteuerliche Gedanke einer Fremdenlegion zeigt freilich, daß die Kräfte Eng¬
lands, so groß sie sein mögen, doch für den gegenwärtigen Zweck nicht dis¬
ponibel sind. Dabei darf man nicht außer Augen lassen, daß der nächste
Zweck deö Krieges, den England gegen Rußland unternahm, die Vertheidigung
der Türkei gegen die übermäßigen Ansprüche Rußlands war, und daß dieser


Modifikation der Verträge betrifft, so hat es sich ja im gegenwärtigen Augen¬
blicke gezeigt, daß diese keine sonderlichen Stützen sind, und bei einer günstigen
Conjunctur können die alten Ansprüche immer wieder aufgenommen werden;
an einer passenden Gelegenheit wird es beim guten Willen nicht fehlen. Das
absolute Nachgeben ist also von Seiten deö russischen Kaisers der weiseste Ent¬
schluß, und wenn wir trotzdem davon überrascht wurden, so war es nur, weil
wir annahmen, das stolze, sehr natürliche Selbstgefühl werde über die ruhige
Ueberlegung siegen. Aber dies Mal war wider Vermuthen der kluge und
stolze Herrscher klug genug, nicht stolz zu sein.

Auf der andern Seite haben zwei von den verbündeten Mächten für sich
selbst bereits erreicht, was zu erreichen war, Frankreich und Oestreich. Der
Kaiser Napoleon ist jetzt als guter Bruder der alten legitimen Herrscher aner¬
kannt, er steht mit Oestreich in einem mehr als herzlichen EinVerständniß, an
eine wirkliche Gebietserweiterung im Orient kann er nicht denken und von der
Machterweiterung Rußlands hat Frankreich unmittelbar am wenigsten zu fürchten.
Es liegt also von dieser Seite kein Grund vor, eine Fortsetzung des Krieges leb¬
haft zu wünschen. Oestreich, auch wenn es nicht die alleinige Protection der
Donaufürstenthümer erwirbt, hat doch einen sehr bedeutenden Gewinn bereits
davongetragen. Sein Ansehen im Orient ist ungeheuer vergrößert, und seine
Stellung innerhalb des deutschen Bundes ist namentlich im Verhältniß zu
Preußen sehr viel günstiger geworden. Schon trägt man sich im Publicum
mit der Idee einer Wiederherstellung des Kaiserreichs, eine Ji?ce, die freilich in
das Reich der Illusionen gehört, die aber doch verräth, nach welcher Seite die
Sympathien sich gewandt haben (so z. B. in einer neuen Broschüre: Deutsch¬
lands Aussichten im Jahre 18Sö und in den nächsten zehn Jahren, Schwäbisch-
Hall, Haspel).

Anders steht freilich die Sache um England. Wenn durch den gegen¬
wärtigen Krieg Rußlands Macht nicht wirklich geschwächt wird, so steht das
britische Reich wieder in Gefahr einer neuen Jsolirung. Außerdem hat es
sehr bedeutende Opfer gebracht, und ein Ministerium, welches nach den
drei blutigen Schlachten in der Krim einen Frieden in den angegebenen Be¬
dingungen schlösse, würde unzweifelhaft am Vorabend seines Falls stehen. Von
dieser Seite würden wir uns eine Nachgiebigkeit auch nur daraus erklären
können, daß die Regierung an die Zuverlässigkeit ihrer Alliirten nicht glaubt,
und daß sie sich allein außer Staude sieht, den Krieg fortzuführen. Der
abenteuerliche Gedanke einer Fremdenlegion zeigt freilich, daß die Kräfte Eng¬
lands, so groß sie sein mögen, doch für den gegenwärtigen Zweck nicht dis¬
ponibel sind. Dabei darf man nicht außer Augen lassen, daß der nächste
Zweck deö Krieges, den England gegen Rußland unternahm, die Vertheidigung
der Türkei gegen die übermäßigen Ansprüche Rußlands war, und daß dieser


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[0149] Modifikation der Verträge betrifft, so hat es sich ja im gegenwärtigen Augen¬ blicke gezeigt, daß diese keine sonderlichen Stützen sind, und bei einer günstigen Conjunctur können die alten Ansprüche immer wieder aufgenommen werden; an einer passenden Gelegenheit wird es beim guten Willen nicht fehlen. Das absolute Nachgeben ist also von Seiten deö russischen Kaisers der weiseste Ent¬ schluß, und wenn wir trotzdem davon überrascht wurden, so war es nur, weil wir annahmen, das stolze, sehr natürliche Selbstgefühl werde über die ruhige Ueberlegung siegen. Aber dies Mal war wider Vermuthen der kluge und stolze Herrscher klug genug, nicht stolz zu sein. Auf der andern Seite haben zwei von den verbündeten Mächten für sich selbst bereits erreicht, was zu erreichen war, Frankreich und Oestreich. Der Kaiser Napoleon ist jetzt als guter Bruder der alten legitimen Herrscher aner¬ kannt, er steht mit Oestreich in einem mehr als herzlichen EinVerständniß, an eine wirkliche Gebietserweiterung im Orient kann er nicht denken und von der Machterweiterung Rußlands hat Frankreich unmittelbar am wenigsten zu fürchten. Es liegt also von dieser Seite kein Grund vor, eine Fortsetzung des Krieges leb¬ haft zu wünschen. Oestreich, auch wenn es nicht die alleinige Protection der Donaufürstenthümer erwirbt, hat doch einen sehr bedeutenden Gewinn bereits davongetragen. Sein Ansehen im Orient ist ungeheuer vergrößert, und seine Stellung innerhalb des deutschen Bundes ist namentlich im Verhältniß zu Preußen sehr viel günstiger geworden. Schon trägt man sich im Publicum mit der Idee einer Wiederherstellung des Kaiserreichs, eine Ji?ce, die freilich in das Reich der Illusionen gehört, die aber doch verräth, nach welcher Seite die Sympathien sich gewandt haben (so z. B. in einer neuen Broschüre: Deutsch¬ lands Aussichten im Jahre 18Sö und in den nächsten zehn Jahren, Schwäbisch- Hall, Haspel). Anders steht freilich die Sache um England. Wenn durch den gegen¬ wärtigen Krieg Rußlands Macht nicht wirklich geschwächt wird, so steht das britische Reich wieder in Gefahr einer neuen Jsolirung. Außerdem hat es sehr bedeutende Opfer gebracht, und ein Ministerium, welches nach den drei blutigen Schlachten in der Krim einen Frieden in den angegebenen Be¬ dingungen schlösse, würde unzweifelhaft am Vorabend seines Falls stehen. Von dieser Seite würden wir uns eine Nachgiebigkeit auch nur daraus erklären können, daß die Regierung an die Zuverlässigkeit ihrer Alliirten nicht glaubt, und daß sie sich allein außer Staude sieht, den Krieg fortzuführen. Der abenteuerliche Gedanke einer Fremdenlegion zeigt freilich, daß die Kräfte Eng¬ lands, so groß sie sein mögen, doch für den gegenwärtigen Zweck nicht dis¬ ponibel sind. Dabei darf man nicht außer Augen lassen, daß der nächste Zweck deö Krieges, den England gegen Rußland unternahm, die Vertheidigung der Türkei gegen die übermäßigen Ansprüche Rußlands war, und daß dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/149>, abgerufen am 10.06.2024.