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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Selbststcmdigkeit nicht ermangelte, zur Geltung verholfen. Der Dreibund wen
durch keinen Act aufgelöst worden, aber man glaubte nicht mehr an seinen
inneren Halt, und wenn man den damaligen Leitern der preußischen aus¬
wärtigen Politik überhaupt große und weitgreifende Pläne hätte zuschreiben
dürfen, so konnte man damals auf den Gedanken gerathen, als treibe diese
Großmacht einem Bündmsse mit England entgegen. Das Patent vom 3ten
Februar wurde mindestens seiner Zeit von manchen sonst Wohlunterrichteten
als ein Zugeständnis; im Sinne solcher Pläne bezeichnet.

Da trat jene Sturmperiode ein, die man übertreibend mit dem Namen
der europäischen Revolution bezeichnet hat. In dem Augenblick wo Ludwig
Philipp stürzt und die Straßenkampfe in Wien und Berlin Oestreich wie
Preußen neue Bahnen der innere" Politik, mindestens zum Schein einschla¬
gen lassen, tritt Lord Palmerston mit einem neuen fertigen System auswär¬
tiger englischer Politik auf. In diesem System ist der Glaube an die Un-
aufrichtigkeit der beiden deutschen Großmächte, sich einer neuen Ordnung der
Dinge anzuschließen, das Klarste. Der Secretary of the Foreign-Affairs ist sich
genau bewußt, wessen er sich von den Cabineten in Berlin und Wien zu ver¬
sehen hat, und daß die unausbleibliche Reaction eine Erneuerung der heiligen
Allianz zur Folge haben könne, ist seine Haüptbefürchtung. Unter solchen
Umständen zieht er es vor, Oestreich zerstückeln zu lassen, und schaut eifersüchtig
auf Preußens Vorgehen gegen Dänemark. Aber diese Politik ist nur aus
einzelnen Punkten glücklich; in Italien und Ungarn scheitert sie, und hier
treffen Rußlands Bestrebungen mit den gegensätzlichen englischen aufeinander,
ohne einen Conflict hervorzurufen. Wofür Rußland in Ungarn kämpfte, ist
klar: es galt die Erhaltung eines der Theilhaber des wieder neu aufzurich¬
tenden östlichen Dreibundes.

Man kann sich nicht verhehlen, daß Rußland in Wien und Berlin durch
den auf die Bewegung von 1848 und 49 erfolgten Rückschlag neue Chancen
gewann, aber es verlor mindestens ebensoviel in Paris durch die Erhebung
Napoleons. Ob es unter solchen Umständen den gegenwärtigen Krieg gewollt,
kann man bezweifeln; aber daß es ihn, nachdem er einmal begonnen, mit mög¬
lichstem Nachdruck führen wird, ist heute nicht mehr zu bestreiten.

Gleichwie in der vorangegangenen Periode, seit dem Sturze Napoleons !.,
auf der einen Seite die Festigung des Dreibundes, auf der anderen seine Auf¬
lösung oder Neutralisirung Ziel der Bestrebungen gewesen war, so auch jetzt.
Im Hintergrunde aller russischen diplomatischen Äctionen steht nach wie vor
das heiße Verlangen, mit Preußen und Oestreich zu einem neuen festen Ab¬
schluß zu kommen, und, wie seltsam es auch immer klingen mag: die Gefahr,
daß es ihm gelinge, ist noch nicht ganz beschworen.

Gelingt es andererseits den Westmächten: die deutschen Großstaaten in


Selbststcmdigkeit nicht ermangelte, zur Geltung verholfen. Der Dreibund wen
durch keinen Act aufgelöst worden, aber man glaubte nicht mehr an seinen
inneren Halt, und wenn man den damaligen Leitern der preußischen aus¬
wärtigen Politik überhaupt große und weitgreifende Pläne hätte zuschreiben
dürfen, so konnte man damals auf den Gedanken gerathen, als treibe diese
Großmacht einem Bündmsse mit England entgegen. Das Patent vom 3ten
Februar wurde mindestens seiner Zeit von manchen sonst Wohlunterrichteten
als ein Zugeständnis; im Sinne solcher Pläne bezeichnet.

Da trat jene Sturmperiode ein, die man übertreibend mit dem Namen
der europäischen Revolution bezeichnet hat. In dem Augenblick wo Ludwig
Philipp stürzt und die Straßenkampfe in Wien und Berlin Oestreich wie
Preußen neue Bahnen der innere» Politik, mindestens zum Schein einschla¬
gen lassen, tritt Lord Palmerston mit einem neuen fertigen System auswär¬
tiger englischer Politik auf. In diesem System ist der Glaube an die Un-
aufrichtigkeit der beiden deutschen Großmächte, sich einer neuen Ordnung der
Dinge anzuschließen, das Klarste. Der Secretary of the Foreign-Affairs ist sich
genau bewußt, wessen er sich von den Cabineten in Berlin und Wien zu ver¬
sehen hat, und daß die unausbleibliche Reaction eine Erneuerung der heiligen
Allianz zur Folge haben könne, ist seine Haüptbefürchtung. Unter solchen
Umständen zieht er es vor, Oestreich zerstückeln zu lassen, und schaut eifersüchtig
auf Preußens Vorgehen gegen Dänemark. Aber diese Politik ist nur aus
einzelnen Punkten glücklich; in Italien und Ungarn scheitert sie, und hier
treffen Rußlands Bestrebungen mit den gegensätzlichen englischen aufeinander,
ohne einen Conflict hervorzurufen. Wofür Rußland in Ungarn kämpfte, ist
klar: es galt die Erhaltung eines der Theilhaber des wieder neu aufzurich¬
tenden östlichen Dreibundes.

Man kann sich nicht verhehlen, daß Rußland in Wien und Berlin durch
den auf die Bewegung von 1848 und 49 erfolgten Rückschlag neue Chancen
gewann, aber es verlor mindestens ebensoviel in Paris durch die Erhebung
Napoleons. Ob es unter solchen Umständen den gegenwärtigen Krieg gewollt,
kann man bezweifeln; aber daß es ihn, nachdem er einmal begonnen, mit mög¬
lichstem Nachdruck führen wird, ist heute nicht mehr zu bestreiten.

Gleichwie in der vorangegangenen Periode, seit dem Sturze Napoleons !.,
auf der einen Seite die Festigung des Dreibundes, auf der anderen seine Auf¬
lösung oder Neutralisirung Ziel der Bestrebungen gewesen war, so auch jetzt.
Im Hintergrunde aller russischen diplomatischen Äctionen steht nach wie vor
das heiße Verlangen, mit Preußen und Oestreich zu einem neuen festen Ab¬
schluß zu kommen, und, wie seltsam es auch immer klingen mag: die Gefahr,
daß es ihm gelinge, ist noch nicht ganz beschworen.

Gelingt es andererseits den Westmächten: die deutschen Großstaaten in


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[0040] Selbststcmdigkeit nicht ermangelte, zur Geltung verholfen. Der Dreibund wen durch keinen Act aufgelöst worden, aber man glaubte nicht mehr an seinen inneren Halt, und wenn man den damaligen Leitern der preußischen aus¬ wärtigen Politik überhaupt große und weitgreifende Pläne hätte zuschreiben dürfen, so konnte man damals auf den Gedanken gerathen, als treibe diese Großmacht einem Bündmsse mit England entgegen. Das Patent vom 3ten Februar wurde mindestens seiner Zeit von manchen sonst Wohlunterrichteten als ein Zugeständnis; im Sinne solcher Pläne bezeichnet. Da trat jene Sturmperiode ein, die man übertreibend mit dem Namen der europäischen Revolution bezeichnet hat. In dem Augenblick wo Ludwig Philipp stürzt und die Straßenkampfe in Wien und Berlin Oestreich wie Preußen neue Bahnen der innere» Politik, mindestens zum Schein einschla¬ gen lassen, tritt Lord Palmerston mit einem neuen fertigen System auswär¬ tiger englischer Politik auf. In diesem System ist der Glaube an die Un- aufrichtigkeit der beiden deutschen Großmächte, sich einer neuen Ordnung der Dinge anzuschließen, das Klarste. Der Secretary of the Foreign-Affairs ist sich genau bewußt, wessen er sich von den Cabineten in Berlin und Wien zu ver¬ sehen hat, und daß die unausbleibliche Reaction eine Erneuerung der heiligen Allianz zur Folge haben könne, ist seine Haüptbefürchtung. Unter solchen Umständen zieht er es vor, Oestreich zerstückeln zu lassen, und schaut eifersüchtig auf Preußens Vorgehen gegen Dänemark. Aber diese Politik ist nur aus einzelnen Punkten glücklich; in Italien und Ungarn scheitert sie, und hier treffen Rußlands Bestrebungen mit den gegensätzlichen englischen aufeinander, ohne einen Conflict hervorzurufen. Wofür Rußland in Ungarn kämpfte, ist klar: es galt die Erhaltung eines der Theilhaber des wieder neu aufzurich¬ tenden östlichen Dreibundes. Man kann sich nicht verhehlen, daß Rußland in Wien und Berlin durch den auf die Bewegung von 1848 und 49 erfolgten Rückschlag neue Chancen gewann, aber es verlor mindestens ebensoviel in Paris durch die Erhebung Napoleons. Ob es unter solchen Umständen den gegenwärtigen Krieg gewollt, kann man bezweifeln; aber daß es ihn, nachdem er einmal begonnen, mit mög¬ lichstem Nachdruck führen wird, ist heute nicht mehr zu bestreiten. Gleichwie in der vorangegangenen Periode, seit dem Sturze Napoleons !., auf der einen Seite die Festigung des Dreibundes, auf der anderen seine Auf¬ lösung oder Neutralisirung Ziel der Bestrebungen gewesen war, so auch jetzt. Im Hintergrunde aller russischen diplomatischen Äctionen steht nach wie vor das heiße Verlangen, mit Preußen und Oestreich zu einem neuen festen Ab¬ schluß zu kommen, und, wie seltsam es auch immer klingen mag: die Gefahr, daß es ihm gelinge, ist noch nicht ganz beschworen. Gelingt es andererseits den Westmächten: die deutschen Großstaaten in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/40>, abgerufen am 26.05.2024.