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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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sind fast durchaus von der Art, daß sie noch heute bei so völlig veränderten
Umständen ihren Werth behalten.

Bekanntlich erhob sich im Jahre l8i9 in Frankfurt, als Arndt seine
Stimme für Kleindeutschland abgab, die gesammte demokratische Partei und
erinnerte den greisen Dichter an den bekannten Refrain seines Liedes: das
ganze Deutschland soll es sein. Auch von den Parteigenossen, die meistens
von ihrem Freunde nicht viel mehr kannten, als jenes Naterlandslied, wurde
jener Schritt als eine ehrenwerthe Inconsequenz aufgefaßt. Das ist sie aber
keineswegs. Wenn man in einer Zeit, wo das heilige römische Reich deutscher
Nation noch in aller Erinnerung bestand, bei dem Aufruf des Volks nicht
wol eine andere Wendung nehmen konnte, als zur Wiederaufrichtung dieses
Reichs anzuregen, so ist es doch bei Arndt nie die historische Reminiscenz, aus
die er sein deutsches Volksthum gründen will, sondern die sittlich geeinigte
Volkskraft, die ihm in der Gegenwart entgegentritt. Arndt war nicht blos ein
warmer Patriot, sondern auch ein guter Protestant, und dies gibt seiner ganzen
Politik eine Färbung, die ihn schon damals als den Verkündiger unsrer gegen¬
wärtigen Bestrebungen erscheinen läßt.

Sehr interessant ist in dieser Beziehung seine Beurtheilung der Schlegel-
schen Vorlesungen über neuere Geschichte und Literatur. Mit einem Scharf¬
sinn, der nur dem gebildeten historischen Sinn eigen ist, entwickelt Arndt nicht
blos in dem, was Schlegel sagt, sondern vorzüglich in dem, was er verschweigt,
das Unhistorische und Unsittliche seiner Principien und stellt die Bedeutung
der Reformation für, die Wiedergeburt des deutschen Sinns auf eine geistvolle
und überzeugende Weise fest. "Es waren," sagt er, "nichr einzelne Uebel und
Mißbräuche, welche eine Reformation heisesten .... Es war- ein großes
allgemeines Grundübel, eine schwere Krankheit, die an den edelsten-und inner¬
sten Organen der Kirche zehrte. Diese Krankheit hieß Unsirtlichkeit und Un¬
wissenheit. .. . Freilich wenn man vornehm von oben herab immer nur die
Sonnen und Monde der Kunst und Gelehrsamkeit zeigen und das Mittlere
und Untere gar keines Blickes würdigen und sich überhaupt geberden will, als
sei es nicht in der Welt oder brauche doch nicht darin zu sein, so lassen sich
allerdings anch in dem Jahrhundert vor der Reformation und zur Zeit ihres
Ausbruchs einzelne Hohepriester und GotteSgelehrte zeigen, welche es in
Wissenschaft und Trefflichkeit wol mit den besten in den beiden folgenden
Jahrhunderten aufnehmen könnten. Aber die eigentlichen Verwalter und Aus-
spnider des christlichen Heiligthums, die vielen kleineren Pfeiler und Säulen,
wodurch die christliche Kirche vornehmlich gehalten und getragen werden sollte,
die Lehrer und Priester des Volkes, die Pfarrer, Seelsorger, Schulmeister, wie
unwissend, ungöltlich, gleichgültig und wie stolz und übermüthig von der Priester¬
schaft der höheren Ordnungen unterdrückt und verachtet waren diese nothwen-


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sind fast durchaus von der Art, daß sie noch heute bei so völlig veränderten
Umständen ihren Werth behalten.

Bekanntlich erhob sich im Jahre l8i9 in Frankfurt, als Arndt seine
Stimme für Kleindeutschland abgab, die gesammte demokratische Partei und
erinnerte den greisen Dichter an den bekannten Refrain seines Liedes: das
ganze Deutschland soll es sein. Auch von den Parteigenossen, die meistens
von ihrem Freunde nicht viel mehr kannten, als jenes Naterlandslied, wurde
jener Schritt als eine ehrenwerthe Inconsequenz aufgefaßt. Das ist sie aber
keineswegs. Wenn man in einer Zeit, wo das heilige römische Reich deutscher
Nation noch in aller Erinnerung bestand, bei dem Aufruf des Volks nicht
wol eine andere Wendung nehmen konnte, als zur Wiederaufrichtung dieses
Reichs anzuregen, so ist es doch bei Arndt nie die historische Reminiscenz, aus
die er sein deutsches Volksthum gründen will, sondern die sittlich geeinigte
Volkskraft, die ihm in der Gegenwart entgegentritt. Arndt war nicht blos ein
warmer Patriot, sondern auch ein guter Protestant, und dies gibt seiner ganzen
Politik eine Färbung, die ihn schon damals als den Verkündiger unsrer gegen¬
wärtigen Bestrebungen erscheinen läßt.

Sehr interessant ist in dieser Beziehung seine Beurtheilung der Schlegel-
schen Vorlesungen über neuere Geschichte und Literatur. Mit einem Scharf¬
sinn, der nur dem gebildeten historischen Sinn eigen ist, entwickelt Arndt nicht
blos in dem, was Schlegel sagt, sondern vorzüglich in dem, was er verschweigt,
das Unhistorische und Unsittliche seiner Principien und stellt die Bedeutung
der Reformation für, die Wiedergeburt des deutschen Sinns auf eine geistvolle
und überzeugende Weise fest. „Es waren," sagt er, „nichr einzelne Uebel und
Mißbräuche, welche eine Reformation heisesten .... Es war- ein großes
allgemeines Grundübel, eine schwere Krankheit, die an den edelsten-und inner¬
sten Organen der Kirche zehrte. Diese Krankheit hieß Unsirtlichkeit und Un¬
wissenheit. .. . Freilich wenn man vornehm von oben herab immer nur die
Sonnen und Monde der Kunst und Gelehrsamkeit zeigen und das Mittlere
und Untere gar keines Blickes würdigen und sich überhaupt geberden will, als
sei es nicht in der Welt oder brauche doch nicht darin zu sein, so lassen sich
allerdings anch in dem Jahrhundert vor der Reformation und zur Zeit ihres
Ausbruchs einzelne Hohepriester und GotteSgelehrte zeigen, welche es in
Wissenschaft und Trefflichkeit wol mit den besten in den beiden folgenden
Jahrhunderten aufnehmen könnten. Aber die eigentlichen Verwalter und Aus-
spnider des christlichen Heiligthums, die vielen kleineren Pfeiler und Säulen,
wodurch die christliche Kirche vornehmlich gehalten und getragen werden sollte,
die Lehrer und Priester des Volkes, die Pfarrer, Seelsorger, Schulmeister, wie
unwissend, ungöltlich, gleichgültig und wie stolz und übermüthig von der Priester¬
schaft der höheren Ordnungen unterdrückt und verachtet waren diese nothwen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/371>, abgerufen am 27.05.2024.