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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Stellung des Herrn von Lütcken ist dadurch keine leichte geworden. Sollte
auch der nicht unbeträchtlichen Anzahl von Adressen, welche den König um
Schutz der Verfassung und Zusammenberufung der Stände angehen, kein
großes Gewicht beigelegt werden, so kommt destomehr darauf an, daß bei der
Gesetzgebung von -1868 die höchsten Autoritäten unsrer Gerichtshöfe mitgewirkt
haben, die sich zwar nicht in Adressen aussprechen können, die aber, wenn die be¬
stehende Verfassung für rechtsungiltig erklärt würde, in der darauf folgenden
Ständeversammlung das Wort ergreifen müßten. Daß Herr v. Lütcken also,
indem er zunächst dem Bundeöbeschluß vom 12. August nachkommt, in der am
19. Mai publicirten königlichen Verordnung mit großer Vorsicht verfährt, ist der
Situation durchaus angemessen. Es werden dort ohne Mitwirkung derStänle
zunächst nur jener §. 33 der Verfassung, welcher die Umgestaltung der Pro-
vinzialstänve der allgemeinen Gesetzgebung vindicirt und jenes Gesetz vom
L August-183->, welches die Provinzialstände demgemäß organisirte, aufgehoben.
Der von der Bundesversammlung ebenfalls als verfassungswidrig bezeichnete K. 36,
welcher den Adel als solchen aus der ersten Kammer ausschloß, bleibt noch
unerledigt. Die weitere Ausführung des B.mdesbeschlusscs wird vorbehalten.
In diesem Zögern schon den Beweis dafür zu sehen, daß der Bundesbeschluß,
welcher das rechtmäßige Entstehen der Verfassung vom 3. September in Ab¬
rede stellt, im Ministerium die Majorität gegen sich gefunden habe, ist um so
unhaltbarer, als die Denkschrift, welche meint, der ez. -180 habe nicht, wie es
geschehen, angetastet werden dürfen, aus demselben Ministerium hervorging.
Nicht unmöglich, daß die fernern Verfassungsänderungen ermäßigt werden
und daß der Versuch gemacht wird, sie mit dem Landtage zu Stande zubringen.
Aber alle Vermuthungen darüber sind gewagt und eitel, da die Regierung selbst
sich in Geheimniß hüllt. Die Entwicklung muß erwartet werden. Wie dieselbe
auch ausfalle, jeder Sieg der Ritter wird ein vorübergehender bleiben:
die Ansprüche aus Verfassungszustande, welche der Landesart einsprechen,
werden früher oder später wiederkehren und man wirb alsdann auf die Stüve-
schen Organisationen zurückkommen, weil sie am wenigsten auf doctrinären
Gebilden, sondern auf tiefem Verständniß dieses niedersächsischen Stammes
beruhen.

Alle übrigen Sätze der Verfassung, welche Bestimmungen über den Re¬
gierungsantritt, die Ministerentlassung, die Judenemancipation u. s. w. be¬
treffen, sind bei den jetzt bevorstehenden Debatten mit Ausnahme d>r Para¬
graphen, welche die richterliche und die communale Unabhängigkeit schützen,
zur Nebensache geworden. Vor der Hand beruhen sie wenigstens und auch
wir wollen sie in diesem Augenblicke nicht weiter berühren.




Stellung des Herrn von Lütcken ist dadurch keine leichte geworden. Sollte
auch der nicht unbeträchtlichen Anzahl von Adressen, welche den König um
Schutz der Verfassung und Zusammenberufung der Stände angehen, kein
großes Gewicht beigelegt werden, so kommt destomehr darauf an, daß bei der
Gesetzgebung von -1868 die höchsten Autoritäten unsrer Gerichtshöfe mitgewirkt
haben, die sich zwar nicht in Adressen aussprechen können, die aber, wenn die be¬
stehende Verfassung für rechtsungiltig erklärt würde, in der darauf folgenden
Ständeversammlung das Wort ergreifen müßten. Daß Herr v. Lütcken also,
indem er zunächst dem Bundeöbeschluß vom 12. August nachkommt, in der am
19. Mai publicirten königlichen Verordnung mit großer Vorsicht verfährt, ist der
Situation durchaus angemessen. Es werden dort ohne Mitwirkung derStänle
zunächst nur jener §. 33 der Verfassung, welcher die Umgestaltung der Pro-
vinzialstänve der allgemeinen Gesetzgebung vindicirt und jenes Gesetz vom
L August-183->, welches die Provinzialstände demgemäß organisirte, aufgehoben.
Der von der Bundesversammlung ebenfalls als verfassungswidrig bezeichnete K. 36,
welcher den Adel als solchen aus der ersten Kammer ausschloß, bleibt noch
unerledigt. Die weitere Ausführung des B.mdesbeschlusscs wird vorbehalten.
In diesem Zögern schon den Beweis dafür zu sehen, daß der Bundesbeschluß,
welcher das rechtmäßige Entstehen der Verfassung vom 3. September in Ab¬
rede stellt, im Ministerium die Majorität gegen sich gefunden habe, ist um so
unhaltbarer, als die Denkschrift, welche meint, der ez. -180 habe nicht, wie es
geschehen, angetastet werden dürfen, aus demselben Ministerium hervorging.
Nicht unmöglich, daß die fernern Verfassungsänderungen ermäßigt werden
und daß der Versuch gemacht wird, sie mit dem Landtage zu Stande zubringen.
Aber alle Vermuthungen darüber sind gewagt und eitel, da die Regierung selbst
sich in Geheimniß hüllt. Die Entwicklung muß erwartet werden. Wie dieselbe
auch ausfalle, jeder Sieg der Ritter wird ein vorübergehender bleiben:
die Ansprüche aus Verfassungszustande, welche der Landesart einsprechen,
werden früher oder später wiederkehren und man wirb alsdann auf die Stüve-
schen Organisationen zurückkommen, weil sie am wenigsten auf doctrinären
Gebilden, sondern auf tiefem Verständniß dieses niedersächsischen Stammes
beruhen.

Alle übrigen Sätze der Verfassung, welche Bestimmungen über den Re¬
gierungsantritt, die Ministerentlassung, die Judenemancipation u. s. w. be¬
treffen, sind bei den jetzt bevorstehenden Debatten mit Ausnahme d>r Para¬
graphen, welche die richterliche und die communale Unabhängigkeit schützen,
zur Nebensache geworden. Vor der Hand beruhen sie wenigstens und auch
wir wollen sie in diesem Augenblicke nicht weiter berühren.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/472>, abgerufen am 19.05.2024.