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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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sich nachher wie im Wilhelm Meister, sobald wir durch das Märchen ge¬
waltsam dem Reich der Wirklichkeit entrückt sind, und wir finden uns zu An¬
fang des zweiten Theils in einem Reich des Jenseits, dessen Gesetz uns unbe¬
greiflich ist.


Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt,
Und was man glaubt, es sei geschehen,
Kann man von weitem erst kommen sehen.

schmerzhaft muß jedes Band zerreißen,
Das sich ums innere Auge zieht.

Der Leib wird ausgelöst in Thränen,
Zum weiten Grabe wird die Welt,
In das, verzehrt vom bangen Sehnen,
Das Herz als Asche niederfällt.

Nicht blos die Handlung, selbst die Empfindung wird fragmentarisch, ab¬
gerissen, beziehungslos, unverständlich. Was uns vollends Tiek über die pro-
jectirte Fortsetzung mittheilt, entzieht sich jedem Begriffe. Wir sehen zwar den
Plan, alle auf die Poesie bezüglichen Phänomene des Zeitalters der Kreuz¬
züge in einen weiten Nahmen einzuspannen, bis endlich das gesammte Bild
sich in den reinen Aether der übersinnlichen Welt auflöst und unsichtbar wird,
aber der innere Zusammenhang, ja auch nur die symbolische oder allegorisch,
Tendenz bleibt uns bei der Ueberfülle der Fabelwesen verschlossen/')

Wenn wir bei Arnim und Brentano ein ähnliches Dämmerwesen, ein ähn¬
liches Hereinspielen der Geisterwelt in die Wirklichkeit antreffen, so besteht doch
ein sehr wichtiger Unterschied. Arnim ist von Natur ein wirklicher und sehr
bedeutender Realist, bei ihm erstaunen wir eigentlich nur immer über die Spuren
der übersinnlul en Welten, welche sich gewaltsam und unvermittelt uns auf¬
drängen. Bei Novalis dagegen haben wir den reinen Spiritualismus, und
nicht durch das Jenseits, sondern durch das Diesseits werden wir überrascht,
wenn es uns einmal faßbar entgegentritt. 'Gewöhnlich ist auch mir ein Schein
der Erzählung oder des Dialogs vorhanden. So machen wir z. B. ans die
erste Begegnung Heinrichs mit den Kaufleuten aufmerksam, die immer im Chor
sprechen, auch wo sie erzählen, und die über die tiefsten Geheimnisse der Poesie



*) Treffend ist das Urtheil der Nadel, III. S. 137--us "Novalis war zu sehr
vom Geist getrieben und bewegt, um die geselligen Zustände anders als sehr on gro" zu er¬
wählt: da erschienen sie ihm kleinlich bis zum Ekel, zum Wegwerfen, und das that er im
Ofterdingen: war aber doch vom Unternehmen selbst bezwungen, und mußte eine andere, ver¬
gangene Zeit wählen, die er sich uach Willkür hochstellen zu können glaubte. Aber diese
Zeit war in dem Falle, wie die unsere ist: mit unendlich Unedlen, anscheinend Unwesentlichen
zerscht; das konnte er, wenn er selbst dichten wollte, nur sich zum Schaden anders zurechtstellen."

sich nachher wie im Wilhelm Meister, sobald wir durch das Märchen ge¬
waltsam dem Reich der Wirklichkeit entrückt sind, und wir finden uns zu An¬
fang des zweiten Theils in einem Reich des Jenseits, dessen Gesetz uns unbe¬
greiflich ist.


Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt,
Und was man glaubt, es sei geschehen,
Kann man von weitem erst kommen sehen.

schmerzhaft muß jedes Band zerreißen,
Das sich ums innere Auge zieht.

Der Leib wird ausgelöst in Thränen,
Zum weiten Grabe wird die Welt,
In das, verzehrt vom bangen Sehnen,
Das Herz als Asche niederfällt.

Nicht blos die Handlung, selbst die Empfindung wird fragmentarisch, ab¬
gerissen, beziehungslos, unverständlich. Was uns vollends Tiek über die pro-
jectirte Fortsetzung mittheilt, entzieht sich jedem Begriffe. Wir sehen zwar den
Plan, alle auf die Poesie bezüglichen Phänomene des Zeitalters der Kreuz¬
züge in einen weiten Nahmen einzuspannen, bis endlich das gesammte Bild
sich in den reinen Aether der übersinnlichen Welt auflöst und unsichtbar wird,
aber der innere Zusammenhang, ja auch nur die symbolische oder allegorisch,
Tendenz bleibt uns bei der Ueberfülle der Fabelwesen verschlossen/')

Wenn wir bei Arnim und Brentano ein ähnliches Dämmerwesen, ein ähn¬
liches Hereinspielen der Geisterwelt in die Wirklichkeit antreffen, so besteht doch
ein sehr wichtiger Unterschied. Arnim ist von Natur ein wirklicher und sehr
bedeutender Realist, bei ihm erstaunen wir eigentlich nur immer über die Spuren
der übersinnlul en Welten, welche sich gewaltsam und unvermittelt uns auf¬
drängen. Bei Novalis dagegen haben wir den reinen Spiritualismus, und
nicht durch das Jenseits, sondern durch das Diesseits werden wir überrascht,
wenn es uns einmal faßbar entgegentritt. 'Gewöhnlich ist auch mir ein Schein
der Erzählung oder des Dialogs vorhanden. So machen wir z. B. ans die
erste Begegnung Heinrichs mit den Kaufleuten aufmerksam, die immer im Chor
sprechen, auch wo sie erzählen, und die über die tiefsten Geheimnisse der Poesie



*) Treffend ist das Urtheil der Nadel, III. S. 137—us „Novalis war zu sehr
vom Geist getrieben und bewegt, um die geselligen Zustände anders als sehr on gro« zu er¬
wählt: da erschienen sie ihm kleinlich bis zum Ekel, zum Wegwerfen, und das that er im
Ofterdingen: war aber doch vom Unternehmen selbst bezwungen, und mußte eine andere, ver¬
gangene Zeit wählen, die er sich uach Willkür hochstellen zu können glaubte. Aber diese
Zeit war in dem Falle, wie die unsere ist: mit unendlich Unedlen, anscheinend Unwesentlichen
zerscht; das konnte er, wenn er selbst dichten wollte, nur sich zum Schaden anders zurechtstellen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/135>, abgerufen am 03.06.2024.