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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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er will lieben, zürnen, lachen. Ihm ist das speciell Menschliche, das Denken,
Empfinden, Thun der größten Geister nothwendig, um sich daran zu Aehnlichem
zu entwickeln; Geschichte und Poesie müssen auf ihn wirken, und namentlich
erstere hat jenes Element in viel ausgedehnterem Maße. Statt ehrfurchtsvoller
Scheu wird in ihm vielmehr der eigne Forschungötrieb und mit ihm der Vor¬
witz, alles natürlich zu erklären, rege. Das ist ein gefährlicher Weg, wenn er
ganz vorzugsweise eingeschlagen wird, der leicht zu frühem Materialismus und
Pantheismus führen kann. Wie die Mathematik schon leicht eine eitle Selbst¬
genügsamkeit begründet, so werden die Naturwissenschaften, wenn ein Lehrer
trefflich die Schüler zu fassen weiß, leicht bewirken, daß die Besten ihren Vor¬
witz auf alle Gebiete, namentlich auf das der Religion übertragen und es wird
sich jener Hohn früh entwickeln, der von dem des banausischen Handwerkers
gegen den unbegrissnen höhern Werth der Gebildeten sich nicht wesentlich un¬
terscheidet. Die ganze Heidenwelt mit ihrer unvollkommnen Ethik wird besser
den Jüngling afficiren, als jenes naseweise Wissen, dessen philosophische Wucht
ihm noch zu schwer ist. Ein Achill, ein Ajar in der zauberischen Darstellung
des Homer sollte doch wol den Jüngling ganz anders ergreifen, als Gletscher¬
bildung, Fallgesetz und Voltaische Säule. Denn was die Natur Schönes und
Großes hat zu lieben, bedarf es da der verstandesmäßigen Erkenntniß? Im
Gegentheil wird sie manchem die Poesie der Naturanschauung zerstören, denn
der Knabe steht noch nicht auf dem Standpunkt, den Herr von Humboldt in
seiner Einleitung zum Kosmos einnimmt.

Aber wenn die Realschulen soviel flauere Menscheneremplare liefern, wa¬
rum sie denn nicht wie eine Afterbildung ansetzn, eins jener vielen Experimente
mit der Menschheit wie die Rousseauschen Philanthropien, welche mit Stumpf
und Stiel auszurotten wären, je eher je lieber? -- In einem deutschen Staat
hat man einen hübschen Anfang damit gemacht und zwar Viele wünschen es,
die religiösen und politischen Eiferer, sowie die gesammte Gelehrtenaristokratie.
Ein sehr verehrter Freund, welcher zu unseren beliebtesten Universitätslehrern
gehört und in jeder Beziehung einer der vorgezogenen Geister ist, erwiderte
mir auf meine Verbesserungsvorschläge: das helfe mir alles nichts und führe
nur zu größerer Gespreiztheit, man solle es doch grade heraus sagen, daß
man keine Gymnasien, sondern technische Vorschulen habe; wer mit groben
Fäusten arbeite, solle auch nur denken wie ein Seifensieder; Goethe habe uns
das ganze Unwesen aus den Hals gezogen, und die jetzige Zeit sei grade dazu
da, um es wieder los zu werden. Ich fürchte, mein Freund schüttet das Kind
mit dem Bade aus. Die Herren Akademiker in ihrer Götterhöhe bedenken
">ehe, daß auch sie, wenn auch gewiß von Nektar und Ambrosia, doch leben
müssen, und daß, wenn der Demos ihnen nicht mehr opfern will, sie ver¬
schmachten werden wie Tithonos, dem ewige Jugend zu erflehen vergessen war


er will lieben, zürnen, lachen. Ihm ist das speciell Menschliche, das Denken,
Empfinden, Thun der größten Geister nothwendig, um sich daran zu Aehnlichem
zu entwickeln; Geschichte und Poesie müssen auf ihn wirken, und namentlich
erstere hat jenes Element in viel ausgedehnterem Maße. Statt ehrfurchtsvoller
Scheu wird in ihm vielmehr der eigne Forschungötrieb und mit ihm der Vor¬
witz, alles natürlich zu erklären, rege. Das ist ein gefährlicher Weg, wenn er
ganz vorzugsweise eingeschlagen wird, der leicht zu frühem Materialismus und
Pantheismus führen kann. Wie die Mathematik schon leicht eine eitle Selbst¬
genügsamkeit begründet, so werden die Naturwissenschaften, wenn ein Lehrer
trefflich die Schüler zu fassen weiß, leicht bewirken, daß die Besten ihren Vor¬
witz auf alle Gebiete, namentlich auf das der Religion übertragen und es wird
sich jener Hohn früh entwickeln, der von dem des banausischen Handwerkers
gegen den unbegrissnen höhern Werth der Gebildeten sich nicht wesentlich un¬
terscheidet. Die ganze Heidenwelt mit ihrer unvollkommnen Ethik wird besser
den Jüngling afficiren, als jenes naseweise Wissen, dessen philosophische Wucht
ihm noch zu schwer ist. Ein Achill, ein Ajar in der zauberischen Darstellung
des Homer sollte doch wol den Jüngling ganz anders ergreifen, als Gletscher¬
bildung, Fallgesetz und Voltaische Säule. Denn was die Natur Schönes und
Großes hat zu lieben, bedarf es da der verstandesmäßigen Erkenntniß? Im
Gegentheil wird sie manchem die Poesie der Naturanschauung zerstören, denn
der Knabe steht noch nicht auf dem Standpunkt, den Herr von Humboldt in
seiner Einleitung zum Kosmos einnimmt.

Aber wenn die Realschulen soviel flauere Menscheneremplare liefern, wa¬
rum sie denn nicht wie eine Afterbildung ansetzn, eins jener vielen Experimente
mit der Menschheit wie die Rousseauschen Philanthropien, welche mit Stumpf
und Stiel auszurotten wären, je eher je lieber? — In einem deutschen Staat
hat man einen hübschen Anfang damit gemacht und zwar Viele wünschen es,
die religiösen und politischen Eiferer, sowie die gesammte Gelehrtenaristokratie.
Ein sehr verehrter Freund, welcher zu unseren beliebtesten Universitätslehrern
gehört und in jeder Beziehung einer der vorgezogenen Geister ist, erwiderte
mir auf meine Verbesserungsvorschläge: das helfe mir alles nichts und führe
nur zu größerer Gespreiztheit, man solle es doch grade heraus sagen, daß
man keine Gymnasien, sondern technische Vorschulen habe; wer mit groben
Fäusten arbeite, solle auch nur denken wie ein Seifensieder; Goethe habe uns
das ganze Unwesen aus den Hals gezogen, und die jetzige Zeit sei grade dazu
da, um es wieder los zu werden. Ich fürchte, mein Freund schüttet das Kind
mit dem Bade aus. Die Herren Akademiker in ihrer Götterhöhe bedenken
">ehe, daß auch sie, wenn auch gewiß von Nektar und Ambrosia, doch leben
müssen, und daß, wenn der Demos ihnen nicht mehr opfern will, sie ver¬
schmachten werden wie Tithonos, dem ewige Jugend zu erflehen vergessen war


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/157>, abgerufen am 15.05.2024.