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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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dies, von dem äußersten Basispunkt Alerandropol (Gümri) an gerechnet, ein
Marsch von mindestens 200 deutschen Meilen, auf Straßen, ti'e zum Theil
nur Saumwegc sind, und wo man Pferde, Esel, Kamele und Maulthiere als
einzige Transportmittel kennt: wo mithin im Besonderen die Artillerie, auch wenn
man sich nur auf die Mitführung leichter Feldstücke beschränkte und auf das nach¬
schleppen eines Bclagerungstrains verzichtete, schwer zu bewältigende Hinder¬
nisse fast auf jedem Schritt antreffen würde. Man denke sich dazu die Uner¬
läßlichkeit, die weite Operationslinie durch rückgelassene Streitkräfte zu decken,
wichtige Punkte auf derselben provisorisch zu befestigen und mit einer aus¬
reichenden Besatzung zu versehen, und erwäge letztlich, daß General-Murawieff
nicht über 4-0,000 Mann, ja nach ziemlich sicheren Nachrichten nur 35,000 Mann
unter seinem Commando hat, und der Lage der Verhältnisse nach nicht mehr
haben kann.

Im Grunde genommen hat den Nüssen auch wol kaum jemals die Ab¬
sicht vorgeschwebt, von dieser Richtung her soweit zu greifen; ja angenommen
selbst, sie vermöchten, was, wie eben nachgewiesen, nicht der Fall ist, auf der
Linie vom Kaukasus nach Stambul zu reussiren, und "Czarigrcid" sozusagen
vom Rücken her zu bedrohen, so würden ernste und gewichtige Zweifel sich da¬
gegen erheben: ob sie auch im Stande seien, die durch ein günstiges Unge¬
fähr der Umstände ihnen in die Hand gefallenen Vortheile zu behaupten. Auf
die Gewißheit der Erhaltung der gemachten oder zu machenden Erwerbungen
hat aber Rußland, dessen Politik sich seither als die consequenteste erwiesen
und welche bis dahin nicht einen Rückschritt gemacht hat, von jeher und mit
vollem Recht das meiste Gewicht gelegt. Dem Zaren (hierunter keine Person,
londern einen Begriff verstanden) kommt es nicht darauf an, ob diese oder
jene Beute ihm nach fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren anheim fällt: denn
er hat Zeit und Muse zum Warten und ihm gilt kein Grundsatz höher wie
der: die Birne erst dann zu brechen, wenn sie reif geworden.

Was Rußlands asiatische Erweiterungspolitik angeht, so darf man, glaube
ich, bei Beurtheilung derselben einen Umstand vor allen anderen nicht unbe-
nicksichligt lassen. Die räumliche Continuität, welche in der weiten russischen
Ebene ausgesprochen liegt und dem Zarenstaate in Hinsicht auf seine Ge¬
sammtaction so sehr zu statten kommt, der er es allein zu danken hat, daß die
Kräfte, welche in Europa sich auf einem Gebiet von etwa 100,000 iH Meilen
snstreut finden, wenn es noth thut, dennoch verhältnißmäßig immerhin schnell
genug zusammengenommen werden und nach den meisten Richtungen hin rasch
und massenhaft vorwärtsgeworfen werden können, hört an der Steilwand des
Kaukasus auf. Das Nußland, was südwärts von dieser Gebirgskette gelegen
'se, verhält sich zum Ganzen des Reichs wie ein lose verbundenes Glied, trägt
>n seiner Bodenformation nichts von dem homogenen Charakter, der den Haupt-


dies, von dem äußersten Basispunkt Alerandropol (Gümri) an gerechnet, ein
Marsch von mindestens 200 deutschen Meilen, auf Straßen, ti'e zum Theil
nur Saumwegc sind, und wo man Pferde, Esel, Kamele und Maulthiere als
einzige Transportmittel kennt: wo mithin im Besonderen die Artillerie, auch wenn
man sich nur auf die Mitführung leichter Feldstücke beschränkte und auf das nach¬
schleppen eines Bclagerungstrains verzichtete, schwer zu bewältigende Hinder¬
nisse fast auf jedem Schritt antreffen würde. Man denke sich dazu die Uner¬
läßlichkeit, die weite Operationslinie durch rückgelassene Streitkräfte zu decken,
wichtige Punkte auf derselben provisorisch zu befestigen und mit einer aus¬
reichenden Besatzung zu versehen, und erwäge letztlich, daß General-Murawieff
nicht über 4-0,000 Mann, ja nach ziemlich sicheren Nachrichten nur 35,000 Mann
unter seinem Commando hat, und der Lage der Verhältnisse nach nicht mehr
haben kann.

Im Grunde genommen hat den Nüssen auch wol kaum jemals die Ab¬
sicht vorgeschwebt, von dieser Richtung her soweit zu greifen; ja angenommen
selbst, sie vermöchten, was, wie eben nachgewiesen, nicht der Fall ist, auf der
Linie vom Kaukasus nach Stambul zu reussiren, und „Czarigrcid" sozusagen
vom Rücken her zu bedrohen, so würden ernste und gewichtige Zweifel sich da¬
gegen erheben: ob sie auch im Stande seien, die durch ein günstiges Unge¬
fähr der Umstände ihnen in die Hand gefallenen Vortheile zu behaupten. Auf
die Gewißheit der Erhaltung der gemachten oder zu machenden Erwerbungen
hat aber Rußland, dessen Politik sich seither als die consequenteste erwiesen
und welche bis dahin nicht einen Rückschritt gemacht hat, von jeher und mit
vollem Recht das meiste Gewicht gelegt. Dem Zaren (hierunter keine Person,
londern einen Begriff verstanden) kommt es nicht darauf an, ob diese oder
jene Beute ihm nach fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren anheim fällt: denn
er hat Zeit und Muse zum Warten und ihm gilt kein Grundsatz höher wie
der: die Birne erst dann zu brechen, wenn sie reif geworden.

Was Rußlands asiatische Erweiterungspolitik angeht, so darf man, glaube
ich, bei Beurtheilung derselben einen Umstand vor allen anderen nicht unbe-
nicksichligt lassen. Die räumliche Continuität, welche in der weiten russischen
Ebene ausgesprochen liegt und dem Zarenstaate in Hinsicht auf seine Ge¬
sammtaction so sehr zu statten kommt, der er es allein zu danken hat, daß die
Kräfte, welche in Europa sich auf einem Gebiet von etwa 100,000 iH Meilen
snstreut finden, wenn es noth thut, dennoch verhältnißmäßig immerhin schnell
genug zusammengenommen werden und nach den meisten Richtungen hin rasch
und massenhaft vorwärtsgeworfen werden können, hört an der Steilwand des
Kaukasus auf. Das Nußland, was südwärts von dieser Gebirgskette gelegen
'se, verhält sich zum Ganzen des Reichs wie ein lose verbundenes Glied, trägt
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/229>, abgerufen am 22.05.2024.