Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ab und wollen sich damit begnügen, den großen Städten einen Theil ihrer
Vertretung zu rauben, um das ländliche Element im Schoße des Parlamems zu
befestigen, d. h. ihm die Oberhand zu verschaffen. Brüssel würde danach in vier,
Gent in drei, Antwerpen, Lüttich, Tournay, Mons, Nivelles und Löwen in
zwei Wahlbezirke getheilt werden. Die Idee der Abstimmung am Hauptorte des
Cantons ist keine neue Prätention. Sie wurde schon oft von den Widersachern
des Liberalismus erhoben. Ja, man ging sogar noch weiter und verlangte die
Abstimmung im Gemeindehause, also beinahe in der Wohnung, mit dem Vor¬
behalt, die Wahlzettel nach dem Hauptorte des Cantons zu übermachen. Einem
solchen Regime, welches nothwendig zu den skandalösesten Mißbräuchen führen
und aus der Mehrzahl der Wahlbezirke faule, sehr faule Wahlflecken machen
würde, hat sich der gesunde öffentliche Sinn bis jetzt energisch widersetzt. Aber
trotz dieses allgemeinen Widerwillens gegen die Durchführung ihrer Absichten
hielt sich die klerikale Partei acht für besiegt. Mit der sie charakterisierenden
Zähigkeit zählte sie auf unvorhergesehene Zufalle, welchen die Gesellschaft, wie
die Individuen ausgesetzt ist; und sie hat demzufolge manövrirt. Gegenwärtig
hält sie den Moment für günstig., und entschlossener, wie jemals, setzt sie an
die Verwirklichung ihrer Projecte um so größern Eifer, als sie auf den Erfolg
zählt. Die Chefs der jetzigen Verwaltung sind ihr ergeben, sie glaubt aus
eine parlamentarische Majorität zählen zu können und wird nicht zaudern, sich
zum Meister des Terrains machen zu wollen. Sie gibt sich nicht einmal mehr
die Mühe, zu heucheln und hält es für unnöthig, länger ihr letztes Ziel zu
verbergen, das kein anderes ist, als die ultramontane Prädominanz in
Belgien. Werden der liberalen Partei jetzt die Augen gänzlich aufgehen,
und wird sie die Nothwendigkeit begreisen, ihre Kräfte zu vereinigen, um eine
so große Gefahr zu beschwören? Den Städten besonders liegt die Pflicht des
Widerstandes ob, sie müssen die Schutzwachen unsrer Institutionen und unsrer
Freiheiten sein; ihre eignen Interessen befehlen es ihnen. Sie dürften sonst
sehen, daß sie es sind, welche von den ultramontanen Reformatoren zuerst ge¬
opfert werden.

Eine andre Frage, welche das Ministerium beschäftigt, ist von nicht
minderer Wichtigkeit wie die beabsichtigten Veränderungen des Wahlgesetzes
und die klerikale Partei erinnert in ihren Organen das Ministerium daran,
daß es Pflichten gegen sie zu erfüllen habe und daß eine seiner ersten Pflichten
die Präsentation eines Gesetzes sei, welches das Recht der todten Hand
wiederherstelle, d. h. es gesetzlich erlaube, immerwährende, fortdauernde Stif¬
tungen zu machen, die nicht der Bestätigung der Regierung bedürfen. "Wir
verlangen Freiheit für den Unterricht, für die Mildthätigkeit, für die Kirche"
^ so drückt sich die Patrie, das Organ des Bischofs von Brügge aus --
"und damit diese Freiheit wirklich vorhanden, muß sie die Gründung von


Grenzboten. III. 18os. 38

ab und wollen sich damit begnügen, den großen Städten einen Theil ihrer
Vertretung zu rauben, um das ländliche Element im Schoße des Parlamems zu
befestigen, d. h. ihm die Oberhand zu verschaffen. Brüssel würde danach in vier,
Gent in drei, Antwerpen, Lüttich, Tournay, Mons, Nivelles und Löwen in
zwei Wahlbezirke getheilt werden. Die Idee der Abstimmung am Hauptorte des
Cantons ist keine neue Prätention. Sie wurde schon oft von den Widersachern
des Liberalismus erhoben. Ja, man ging sogar noch weiter und verlangte die
Abstimmung im Gemeindehause, also beinahe in der Wohnung, mit dem Vor¬
behalt, die Wahlzettel nach dem Hauptorte des Cantons zu übermachen. Einem
solchen Regime, welches nothwendig zu den skandalösesten Mißbräuchen führen
und aus der Mehrzahl der Wahlbezirke faule, sehr faule Wahlflecken machen
würde, hat sich der gesunde öffentliche Sinn bis jetzt energisch widersetzt. Aber
trotz dieses allgemeinen Widerwillens gegen die Durchführung ihrer Absichten
hielt sich die klerikale Partei acht für besiegt. Mit der sie charakterisierenden
Zähigkeit zählte sie auf unvorhergesehene Zufalle, welchen die Gesellschaft, wie
die Individuen ausgesetzt ist; und sie hat demzufolge manövrirt. Gegenwärtig
hält sie den Moment für günstig., und entschlossener, wie jemals, setzt sie an
die Verwirklichung ihrer Projecte um so größern Eifer, als sie auf den Erfolg
zählt. Die Chefs der jetzigen Verwaltung sind ihr ergeben, sie glaubt aus
eine parlamentarische Majorität zählen zu können und wird nicht zaudern, sich
zum Meister des Terrains machen zu wollen. Sie gibt sich nicht einmal mehr
die Mühe, zu heucheln und hält es für unnöthig, länger ihr letztes Ziel zu
verbergen, das kein anderes ist, als die ultramontane Prädominanz in
Belgien. Werden der liberalen Partei jetzt die Augen gänzlich aufgehen,
und wird sie die Nothwendigkeit begreisen, ihre Kräfte zu vereinigen, um eine
so große Gefahr zu beschwören? Den Städten besonders liegt die Pflicht des
Widerstandes ob, sie müssen die Schutzwachen unsrer Institutionen und unsrer
Freiheiten sein; ihre eignen Interessen befehlen es ihnen. Sie dürften sonst
sehen, daß sie es sind, welche von den ultramontanen Reformatoren zuerst ge¬
opfert werden.

Eine andre Frage, welche das Ministerium beschäftigt, ist von nicht
minderer Wichtigkeit wie die beabsichtigten Veränderungen des Wahlgesetzes
und die klerikale Partei erinnert in ihren Organen das Ministerium daran,
daß es Pflichten gegen sie zu erfüllen habe und daß eine seiner ersten Pflichten
die Präsentation eines Gesetzes sei, welches das Recht der todten Hand
wiederherstelle, d. h. es gesetzlich erlaube, immerwährende, fortdauernde Stif¬
tungen zu machen, die nicht der Bestätigung der Regierung bedürfen. „Wir
verlangen Freiheit für den Unterricht, für die Mildthätigkeit, für die Kirche"
^ so drückt sich die Patrie, das Organ des Bischofs von Brügge aus —
„und damit diese Freiheit wirklich vorhanden, muß sie die Gründung von


Grenzboten. III. 18os. 38
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100225"/>
          <p xml:id="ID_891" prev="#ID_890"> ab und wollen sich damit begnügen, den großen Städten einen Theil ihrer<lb/>
Vertretung zu rauben, um das ländliche Element im Schoße des Parlamems zu<lb/>
befestigen, d. h. ihm die Oberhand zu verschaffen. Brüssel würde danach in vier,<lb/>
Gent in drei, Antwerpen, Lüttich, Tournay, Mons, Nivelles und Löwen in<lb/>
zwei Wahlbezirke getheilt werden. Die Idee der Abstimmung am Hauptorte des<lb/>
Cantons ist keine neue Prätention. Sie wurde schon oft von den Widersachern<lb/>
des Liberalismus erhoben. Ja, man ging sogar noch weiter und verlangte die<lb/>
Abstimmung im Gemeindehause, also beinahe in der Wohnung, mit dem Vor¬<lb/>
behalt, die Wahlzettel nach dem Hauptorte des Cantons zu übermachen. Einem<lb/>
solchen Regime, welches nothwendig zu den skandalösesten Mißbräuchen führen<lb/>
und aus der Mehrzahl der Wahlbezirke faule, sehr faule Wahlflecken machen<lb/>
würde, hat sich der gesunde öffentliche Sinn bis jetzt energisch widersetzt. Aber<lb/>
trotz dieses allgemeinen Widerwillens gegen die Durchführung ihrer Absichten<lb/>
hielt sich die klerikale Partei acht für besiegt. Mit der sie charakterisierenden<lb/>
Zähigkeit zählte sie auf unvorhergesehene Zufalle, welchen die Gesellschaft, wie<lb/>
die Individuen ausgesetzt ist; und sie hat demzufolge manövrirt. Gegenwärtig<lb/>
hält sie den Moment für günstig., und entschlossener, wie jemals, setzt sie an<lb/>
die Verwirklichung ihrer Projecte um so größern Eifer, als sie auf den Erfolg<lb/>
zählt. Die Chefs der jetzigen Verwaltung sind ihr ergeben, sie glaubt aus<lb/>
eine parlamentarische Majorität zählen zu können und wird nicht zaudern, sich<lb/>
zum Meister des Terrains machen zu wollen. Sie gibt sich nicht einmal mehr<lb/>
die Mühe, zu heucheln und hält es für unnöthig, länger ihr letztes Ziel zu<lb/>
verbergen, das kein anderes ist, als die ultramontane Prädominanz in<lb/>
Belgien. Werden der liberalen Partei jetzt die Augen gänzlich aufgehen,<lb/>
und wird sie die Nothwendigkeit begreisen, ihre Kräfte zu vereinigen, um eine<lb/>
so große Gefahr zu beschwören? Den Städten besonders liegt die Pflicht des<lb/>
Widerstandes ob, sie müssen die Schutzwachen unsrer Institutionen und unsrer<lb/>
Freiheiten sein; ihre eignen Interessen befehlen es ihnen. Sie dürften sonst<lb/>
sehen, daß sie es sind, welche von den ultramontanen Reformatoren zuerst ge¬<lb/>
opfert werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_892" next="#ID_893"> Eine andre Frage, welche das Ministerium beschäftigt, ist von nicht<lb/>
minderer Wichtigkeit wie die beabsichtigten Veränderungen des Wahlgesetzes<lb/>
und die klerikale Partei erinnert in ihren Organen das Ministerium daran,<lb/>
daß es Pflichten gegen sie zu erfüllen habe und daß eine seiner ersten Pflichten<lb/>
die Präsentation eines Gesetzes sei, welches das Recht der todten Hand<lb/>
wiederherstelle, d. h. es gesetzlich erlaube, immerwährende, fortdauernde Stif¬<lb/>
tungen zu machen, die nicht der Bestätigung der Regierung bedürfen. &#x201E;Wir<lb/>
verlangen Freiheit für den Unterricht, für die Mildthätigkeit, für die Kirche"<lb/>
^ so drückt sich die Patrie, das Organ des Bischofs von Brügge aus &#x2014;<lb/>
&#x201E;und damit diese Freiheit wirklich vorhanden, muß sie die Gründung von</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. III. 18os. 38</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] ab und wollen sich damit begnügen, den großen Städten einen Theil ihrer Vertretung zu rauben, um das ländliche Element im Schoße des Parlamems zu befestigen, d. h. ihm die Oberhand zu verschaffen. Brüssel würde danach in vier, Gent in drei, Antwerpen, Lüttich, Tournay, Mons, Nivelles und Löwen in zwei Wahlbezirke getheilt werden. Die Idee der Abstimmung am Hauptorte des Cantons ist keine neue Prätention. Sie wurde schon oft von den Widersachern des Liberalismus erhoben. Ja, man ging sogar noch weiter und verlangte die Abstimmung im Gemeindehause, also beinahe in der Wohnung, mit dem Vor¬ behalt, die Wahlzettel nach dem Hauptorte des Cantons zu übermachen. Einem solchen Regime, welches nothwendig zu den skandalösesten Mißbräuchen führen und aus der Mehrzahl der Wahlbezirke faule, sehr faule Wahlflecken machen würde, hat sich der gesunde öffentliche Sinn bis jetzt energisch widersetzt. Aber trotz dieses allgemeinen Widerwillens gegen die Durchführung ihrer Absichten hielt sich die klerikale Partei acht für besiegt. Mit der sie charakterisierenden Zähigkeit zählte sie auf unvorhergesehene Zufalle, welchen die Gesellschaft, wie die Individuen ausgesetzt ist; und sie hat demzufolge manövrirt. Gegenwärtig hält sie den Moment für günstig., und entschlossener, wie jemals, setzt sie an die Verwirklichung ihrer Projecte um so größern Eifer, als sie auf den Erfolg zählt. Die Chefs der jetzigen Verwaltung sind ihr ergeben, sie glaubt aus eine parlamentarische Majorität zählen zu können und wird nicht zaudern, sich zum Meister des Terrains machen zu wollen. Sie gibt sich nicht einmal mehr die Mühe, zu heucheln und hält es für unnöthig, länger ihr letztes Ziel zu verbergen, das kein anderes ist, als die ultramontane Prädominanz in Belgien. Werden der liberalen Partei jetzt die Augen gänzlich aufgehen, und wird sie die Nothwendigkeit begreisen, ihre Kräfte zu vereinigen, um eine so große Gefahr zu beschwören? Den Städten besonders liegt die Pflicht des Widerstandes ob, sie müssen die Schutzwachen unsrer Institutionen und unsrer Freiheiten sein; ihre eignen Interessen befehlen es ihnen. Sie dürften sonst sehen, daß sie es sind, welche von den ultramontanen Reformatoren zuerst ge¬ opfert werden. Eine andre Frage, welche das Ministerium beschäftigt, ist von nicht minderer Wichtigkeit wie die beabsichtigten Veränderungen des Wahlgesetzes und die klerikale Partei erinnert in ihren Organen das Ministerium daran, daß es Pflichten gegen sie zu erfüllen habe und daß eine seiner ersten Pflichten die Präsentation eines Gesetzes sei, welches das Recht der todten Hand wiederherstelle, d. h. es gesetzlich erlaube, immerwährende, fortdauernde Stif¬ tungen zu machen, die nicht der Bestätigung der Regierung bedürfen. „Wir verlangen Freiheit für den Unterricht, für die Mildthätigkeit, für die Kirche" ^ so drückt sich die Patrie, das Organ des Bischofs von Brügge aus — „und damit diese Freiheit wirklich vorhanden, muß sie die Gründung von Grenzboten. III. 18os. 38

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/305>, abgerufen am 15.05.2024.