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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener
Verträgen.

Von G. G. Gervinus. Erster Band. Leipzig, Engelmann. --

Es ist wol seit längerer Zeit in Deutschland kein Werk erschienen, dem
das gesammte Publicum mit so gespannter Erwartung entgegengesehen hatte,
als diese neue Schrift von Gervinus. Eine Darstellung von der Gesammtent-
wicklung unsres heutigen Lebens, welche von der Zeit anhebt, wo eine furchtbare,
die ganze Gestalt der Welt verändernde Katastrophe vorüber war, darf nicht
als eine Befriedigung müßiger Neugier betrachtet werden; wir verlangen von
ihr eine große Auffassung des Ziels, nach dem wir zu streben haben, scharfe
Einsicht in die Mittel, die dahin führen können, strenge Consequenz in Be¬
ziehung auf die Gegenstände, Gerechtigkeit und billige Rücksicht gegen die Per¬
sonen, deren leitendes Streben wir gut heiße", auch wo wir uns im Einzelnen
nicht ganz mit ihnen befreunden können. Man hat dem Liberalismus der frühern
Zeit und zwar mit Recht vorgeworfen, beschränkt und einseitig in seinen Ge¬
sichtspunkten gewesen zu sein; der neue Liberalismus ist durch die historische
Schule gegangen und hat nicht mehr nöthig, seinen Gegnern einen ein¬
seitigen Haß entgegenzubringen, da er gebildet genug ist, sie zu über¬
sehen.

Das Interesse, mit welchem das Publicum an das neue Werk geht, ist
Zunächst ein politisches. Gervinus hat bereits seit seiner Literaturgeschichte,
wenn auch die Bestimmung derselben anscheinend der Politik fern lag, sich
unter den literarischen Führern einer Partei hervorgethan, die man zwar vielfach
gelästert hat, auf die aber doch im Grunde alle Gebildeten deö Volks ausschließlich
ihre Aufmerksamkeit richten. Wenn man auch zuweilen in einzelnen Punkten
von ihm abweichen mußte, niemals konnte man den ehrlichen, consequenten
und geistvollen Mann verkennen. Man durste mit Recht vermuthen, daß in
seiner Geschichte die Parteirichtung, der er selbst angehört, mit innerer Noth¬
wendigkeit sich als das Ergebniß der bisherigen historischen Dialektik darstellen
würde, und schon in diesem ersten Theil obgleich er sich im Grunde nur mit
den Vorbereitungen beschäftigt, finden wir vieles, was diese Voraussetzung


Grenzboten. III. -I8so. 56
Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener
Verträgen.

Von G. G. Gervinus. Erster Band. Leipzig, Engelmann. —

Es ist wol seit längerer Zeit in Deutschland kein Werk erschienen, dem
das gesammte Publicum mit so gespannter Erwartung entgegengesehen hatte,
als diese neue Schrift von Gervinus. Eine Darstellung von der Gesammtent-
wicklung unsres heutigen Lebens, welche von der Zeit anhebt, wo eine furchtbare,
die ganze Gestalt der Welt verändernde Katastrophe vorüber war, darf nicht
als eine Befriedigung müßiger Neugier betrachtet werden; wir verlangen von
ihr eine große Auffassung des Ziels, nach dem wir zu streben haben, scharfe
Einsicht in die Mittel, die dahin führen können, strenge Consequenz in Be¬
ziehung auf die Gegenstände, Gerechtigkeit und billige Rücksicht gegen die Per¬
sonen, deren leitendes Streben wir gut heiße», auch wo wir uns im Einzelnen
nicht ganz mit ihnen befreunden können. Man hat dem Liberalismus der frühern
Zeit und zwar mit Recht vorgeworfen, beschränkt und einseitig in seinen Ge¬
sichtspunkten gewesen zu sein; der neue Liberalismus ist durch die historische
Schule gegangen und hat nicht mehr nöthig, seinen Gegnern einen ein¬
seitigen Haß entgegenzubringen, da er gebildet genug ist, sie zu über¬
sehen.

Das Interesse, mit welchem das Publicum an das neue Werk geht, ist
Zunächst ein politisches. Gervinus hat bereits seit seiner Literaturgeschichte,
wenn auch die Bestimmung derselben anscheinend der Politik fern lag, sich
unter den literarischen Führern einer Partei hervorgethan, die man zwar vielfach
gelästert hat, auf die aber doch im Grunde alle Gebildeten deö Volks ausschließlich
ihre Aufmerksamkeit richten. Wenn man auch zuweilen in einzelnen Punkten
von ihm abweichen mußte, niemals konnte man den ehrlichen, consequenten
und geistvollen Mann verkennen. Man durste mit Recht vermuthen, daß in
seiner Geschichte die Parteirichtung, der er selbst angehört, mit innerer Noth¬
wendigkeit sich als das Ergebniß der bisherigen historischen Dialektik darstellen
würde, und schon in diesem ersten Theil obgleich er sich im Grunde nur mit
den Vorbereitungen beschäftigt, finden wir vieles, was diese Voraussetzung


Grenzboten. III. -I8so. 56
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[0449] Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den wiener Verträgen. Von G. G. Gervinus. Erster Band. Leipzig, Engelmann. — Es ist wol seit längerer Zeit in Deutschland kein Werk erschienen, dem das gesammte Publicum mit so gespannter Erwartung entgegengesehen hatte, als diese neue Schrift von Gervinus. Eine Darstellung von der Gesammtent- wicklung unsres heutigen Lebens, welche von der Zeit anhebt, wo eine furchtbare, die ganze Gestalt der Welt verändernde Katastrophe vorüber war, darf nicht als eine Befriedigung müßiger Neugier betrachtet werden; wir verlangen von ihr eine große Auffassung des Ziels, nach dem wir zu streben haben, scharfe Einsicht in die Mittel, die dahin führen können, strenge Consequenz in Be¬ ziehung auf die Gegenstände, Gerechtigkeit und billige Rücksicht gegen die Per¬ sonen, deren leitendes Streben wir gut heiße», auch wo wir uns im Einzelnen nicht ganz mit ihnen befreunden können. Man hat dem Liberalismus der frühern Zeit und zwar mit Recht vorgeworfen, beschränkt und einseitig in seinen Ge¬ sichtspunkten gewesen zu sein; der neue Liberalismus ist durch die historische Schule gegangen und hat nicht mehr nöthig, seinen Gegnern einen ein¬ seitigen Haß entgegenzubringen, da er gebildet genug ist, sie zu über¬ sehen. Das Interesse, mit welchem das Publicum an das neue Werk geht, ist Zunächst ein politisches. Gervinus hat bereits seit seiner Literaturgeschichte, wenn auch die Bestimmung derselben anscheinend der Politik fern lag, sich unter den literarischen Führern einer Partei hervorgethan, die man zwar vielfach gelästert hat, auf die aber doch im Grunde alle Gebildeten deö Volks ausschließlich ihre Aufmerksamkeit richten. Wenn man auch zuweilen in einzelnen Punkten von ihm abweichen mußte, niemals konnte man den ehrlichen, consequenten und geistvollen Mann verkennen. Man durste mit Recht vermuthen, daß in seiner Geschichte die Parteirichtung, der er selbst angehört, mit innerer Noth¬ wendigkeit sich als das Ergebniß der bisherigen historischen Dialektik darstellen würde, und schon in diesem ersten Theil obgleich er sich im Grunde nur mit den Vorbereitungen beschäftigt, finden wir vieles, was diese Voraussetzung Grenzboten. III. -I8so. 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/449>, abgerufen am 22.05.2024.