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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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Meere große Vortheile errungen. Es beherrschte durch den Besitz Bessarabiens
die Verbindung Oestreichs mit dem schwarzen Meere. Es drückte auf die nörd¬
lichen Vasallenstaaten der Pforte. Durch den Besitz Polens mußte es auf
hundert Stunden Nähe von Berlin und Wien vordringen. Die englischen
Staatsmänner widersetzten sich diesem Beginnen. Sie wollten Rußland auf
die Weichselgrenze beschränken. Sie wollten nicht, daß bei jeder Feindselig¬
keit desselben ganz Europa, wie bisher gegen Frankreich, so gegen Rußland
in Waffen treten müsse. Sie wollten nicht Preußen und Oestreich mit offenen
Grenzen diesem Nachbar aussetzen; denn sie sahen voraus, daß beide Staaten
dadurch von Rußland abhängig werden mußten. Oestreich wollte ebensowenig
Preußen im Besitz Sachsens, als Rußlands Vorrücken über die Weichsel.
Metternich empfahl Hardenberg dringend, Rußland auf angemessene Grenzen
zu beschränken. Castlereagh machte von Preußens Mitwirken gegen Nußland
die Erwerbung Sachsens durch diese Macht abhängig. Die preußischen Staats¬
männer, Hardenberg, Humboldt, Knesebeck pflichteten ihm vollkommen bei.
Selbst die russischen Staatsmänner, Nesselrode, Pozzo ti Borgo, Capodistria
und Stein erklärten sich gegen die Herstellung eines russischen Polens: es
werde für Rußland ein Quell neidischer Eifersucht, für Polen ein Anreiz
zur Unabhängigkeit, für die Nachbarn eine stete Bedrohung sein.

Hier trat nun die persönliche Politik der Herrscher von Nu߬
land und Preußen ein. Kaiser Alexander drohte, wenn man aus die Her¬
stellung von Russisch-Polen nicht einginge, mit Auflösung des Congresses. Als
der Herzog von Koburg gegen die Einziehung Sachsens protestirte, ließ ihm
Alerander bedeuten, er möge, wenn er so verkehrte Politik treiben wolle, die
russische Uniform ausziehen. Metternich nannte er einen "Schreiber" und
verbot seiner Umgebung, des Fürsten Haus zu besuchen. Er wollte den Polen
eine Nationalität wiedergeben, um einen Theil des an ihnen geübten Unrechts
zu sühnen, seinen Russen aber eine stattliche Vergrößerung bringen. Auf den
König von Preußen machte diese persönliche Politik Alexanders den größten
Eindruck. Er verbot seinen Ministern förmlich, mit England und Oestreich
weiter gemeinsam vorzugehen. Der König trat vollständig auf die Seite Ru߬
lands und suchte sein eignes Interesse, die Erwerbung Sachsens, auf einem
Wege, auf dem sie ihm entgehen sollte. Hardenberg, dessen Schwäche von jeher
versäumt halte, die Entschädigungen Preußens in den Verträgen mit Bestimmt¬
heit festzusetzen und welcher die Früchte des Sieges für Preußen verscherzte,
war zu eitel und charakterlos, um seine Entlassung zu fordern. Hätte er dies
gethan, so würde sich der König besonnen haben. "Aber diese Handlungs¬
weise der politischen Folgerichtigkeit wird nur in freien Staaten durch den
Zwang der Einrichtungen gefordert: in unumschränkten Herrschaften ist sie kaum
jemals durch persönliches Ehrgefühl und Charakterstärke eingegeben worden."


Meere große Vortheile errungen. Es beherrschte durch den Besitz Bessarabiens
die Verbindung Oestreichs mit dem schwarzen Meere. Es drückte auf die nörd¬
lichen Vasallenstaaten der Pforte. Durch den Besitz Polens mußte es auf
hundert Stunden Nähe von Berlin und Wien vordringen. Die englischen
Staatsmänner widersetzten sich diesem Beginnen. Sie wollten Rußland auf
die Weichselgrenze beschränken. Sie wollten nicht, daß bei jeder Feindselig¬
keit desselben ganz Europa, wie bisher gegen Frankreich, so gegen Rußland
in Waffen treten müsse. Sie wollten nicht Preußen und Oestreich mit offenen
Grenzen diesem Nachbar aussetzen; denn sie sahen voraus, daß beide Staaten
dadurch von Rußland abhängig werden mußten. Oestreich wollte ebensowenig
Preußen im Besitz Sachsens, als Rußlands Vorrücken über die Weichsel.
Metternich empfahl Hardenberg dringend, Rußland auf angemessene Grenzen
zu beschränken. Castlereagh machte von Preußens Mitwirken gegen Nußland
die Erwerbung Sachsens durch diese Macht abhängig. Die preußischen Staats¬
männer, Hardenberg, Humboldt, Knesebeck pflichteten ihm vollkommen bei.
Selbst die russischen Staatsmänner, Nesselrode, Pozzo ti Borgo, Capodistria
und Stein erklärten sich gegen die Herstellung eines russischen Polens: es
werde für Rußland ein Quell neidischer Eifersucht, für Polen ein Anreiz
zur Unabhängigkeit, für die Nachbarn eine stete Bedrohung sein.

Hier trat nun die persönliche Politik der Herrscher von Nu߬
land und Preußen ein. Kaiser Alexander drohte, wenn man aus die Her¬
stellung von Russisch-Polen nicht einginge, mit Auflösung des Congresses. Als
der Herzog von Koburg gegen die Einziehung Sachsens protestirte, ließ ihm
Alerander bedeuten, er möge, wenn er so verkehrte Politik treiben wolle, die
russische Uniform ausziehen. Metternich nannte er einen „Schreiber" und
verbot seiner Umgebung, des Fürsten Haus zu besuchen. Er wollte den Polen
eine Nationalität wiedergeben, um einen Theil des an ihnen geübten Unrechts
zu sühnen, seinen Russen aber eine stattliche Vergrößerung bringen. Auf den
König von Preußen machte diese persönliche Politik Alexanders den größten
Eindruck. Er verbot seinen Ministern förmlich, mit England und Oestreich
weiter gemeinsam vorzugehen. Der König trat vollständig auf die Seite Ru߬
lands und suchte sein eignes Interesse, die Erwerbung Sachsens, auf einem
Wege, auf dem sie ihm entgehen sollte. Hardenberg, dessen Schwäche von jeher
versäumt halte, die Entschädigungen Preußens in den Verträgen mit Bestimmt¬
heit festzusetzen und welcher die Früchte des Sieges für Preußen verscherzte,
war zu eitel und charakterlos, um seine Entlassung zu fordern. Hätte er dies
gethan, so würde sich der König besonnen haben. „Aber diese Handlungs¬
weise der politischen Folgerichtigkeit wird nur in freien Staaten durch den
Zwang der Einrichtungen gefordert: in unumschränkten Herrschaften ist sie kaum
jemals durch persönliches Ehrgefühl und Charakterstärke eingegeben worden."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/74>, abgerufen am 15.05.2024.