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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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die menschliche Natur ist im Wesentlichen überall dieselbe, und die normal
und in großen Zügen angelegte Seele des echten Dichters empfindet mit dem
vollen Bewußtsein dieser Empfindung das Nämliche, was ein andrer Mensch
in der ähnlichen Lage ohne Bewußtsein empfinden würde. Mit Gemälden ist
es ein ganz ähnlicher Fall. Aus einer Ängstlicher, wenn auch noch so lange
und eifrig fortgesetzten Beobachtung der Wirklichkeit wird niemals etwas
Ganzes hervorgehen. Selbst bei denjenigen Kunstgattungen, die durch ihre
Natur auf Detailmalerei angewiesen sind, z. B. beim Humor und beim Genre,
muß die eigne Seele das Meiste thun. So überläßt sich z. B. Dickens in
seinen glänzendsten Stellen nicht den äußern Eindrücken, sondern er folgt dem
Impuls seiner trunkenen Laune, die freilich zuweilen über die Grenze des
Natürlichen hinausschweift, aber fast immer poetisch wahr ist. Ein vollendeter
Dichter wird sein, wer beide Talente harmonisch verbindet: wer in seiner
eignen Seele große Empfindungen, Gestalten und Perspektiven vorfindet
und der Wirklichkeit ein gesundes Auge und eine schnell fassende Aufmerksam¬
keit entgegenbringt, um diesen Gestalten' Fleisch und Blut zu geben.

Wenn wir Thackeray einen Virtuosen der Beobachtung nennen, so meinen
wir damit keineswegs, daß seine Darstellungen sich ausschließlich auf die Be¬
obachtung zurückführen lassen. So lange und so viel er auch gelebt hat, be¬
vor er an sein erstes größeres Werk ging, so reicht doch ein volles Menschen¬
leben nicht aus, um diese Fülle kleiner Züge zusammenzubringen, mit denen er
in dem Markt des Lebens die Leser überraschte. Aber die Beobachtung ist der
Maßstab für seine Proouction. Er schneidet nicht, wie man sich auszudrücken
pflegt, seine Gestalten aus vollem Holze, sondern et folgt dem Gesetz der Ana¬
logie. Er erfindet, oder, wenn man will, er empfindet Charakterzüge, die den
beobachteten Charakterzügen parallellaufen. Wenn Vanity-Fair auf die Ro¬
manleser einen so außerordentlichen Eindruck hervorbrachte, so war dieser bis
zu einem gewissen Grade vollkommen gerechtfertigt, denn eine so scharfe Sonde
hatte noch kein belletristischer Anatom an die Fasern des menschlichen Herzens
gelegt, und man konnte sich schmeicheln, aus seinen Darstellungen mehr zu
lernen, als aus einem beliebigen Lehrbuch der Psychologie. Nebenbei entsprach
sein poetisches Talent einer herrschenden Stimmung der Zeit. Man hatte seit
den großen philosophischen Bemühungen zu Anfang dieses Jahrhunderts mit
vielen Illusionen gebrochen, man harte seinen eignen Glauben verloren und
fast die Hoffnung aufgegeben, sich einen neuen Glauben anzueignen. Dieser
Stimmung mußte sehr erwünscht sein, wenn ein reichbegabtes Talent die
glauben- und haltlose Welt in einem verschönernden Licht zeigte. Es war ein
aus Schadenfreude und Rührung gemischtes Gefühl, mit dem man diese Zer¬
gliederung der menschlichen Natur verfolgte, eine Zergliederung, die dem An¬
schein nach nicht darauf ausging, den Schöpfer anzuklagen, sondern ihn gegen


die menschliche Natur ist im Wesentlichen überall dieselbe, und die normal
und in großen Zügen angelegte Seele des echten Dichters empfindet mit dem
vollen Bewußtsein dieser Empfindung das Nämliche, was ein andrer Mensch
in der ähnlichen Lage ohne Bewußtsein empfinden würde. Mit Gemälden ist
es ein ganz ähnlicher Fall. Aus einer Ängstlicher, wenn auch noch so lange
und eifrig fortgesetzten Beobachtung der Wirklichkeit wird niemals etwas
Ganzes hervorgehen. Selbst bei denjenigen Kunstgattungen, die durch ihre
Natur auf Detailmalerei angewiesen sind, z. B. beim Humor und beim Genre,
muß die eigne Seele das Meiste thun. So überläßt sich z. B. Dickens in
seinen glänzendsten Stellen nicht den äußern Eindrücken, sondern er folgt dem
Impuls seiner trunkenen Laune, die freilich zuweilen über die Grenze des
Natürlichen hinausschweift, aber fast immer poetisch wahr ist. Ein vollendeter
Dichter wird sein, wer beide Talente harmonisch verbindet: wer in seiner
eignen Seele große Empfindungen, Gestalten und Perspektiven vorfindet
und der Wirklichkeit ein gesundes Auge und eine schnell fassende Aufmerksam¬
keit entgegenbringt, um diesen Gestalten' Fleisch und Blut zu geben.

Wenn wir Thackeray einen Virtuosen der Beobachtung nennen, so meinen
wir damit keineswegs, daß seine Darstellungen sich ausschließlich auf die Be¬
obachtung zurückführen lassen. So lange und so viel er auch gelebt hat, be¬
vor er an sein erstes größeres Werk ging, so reicht doch ein volles Menschen¬
leben nicht aus, um diese Fülle kleiner Züge zusammenzubringen, mit denen er
in dem Markt des Lebens die Leser überraschte. Aber die Beobachtung ist der
Maßstab für seine Proouction. Er schneidet nicht, wie man sich auszudrücken
pflegt, seine Gestalten aus vollem Holze, sondern et folgt dem Gesetz der Ana¬
logie. Er erfindet, oder, wenn man will, er empfindet Charakterzüge, die den
beobachteten Charakterzügen parallellaufen. Wenn Vanity-Fair auf die Ro¬
manleser einen so außerordentlichen Eindruck hervorbrachte, so war dieser bis
zu einem gewissen Grade vollkommen gerechtfertigt, denn eine so scharfe Sonde
hatte noch kein belletristischer Anatom an die Fasern des menschlichen Herzens
gelegt, und man konnte sich schmeicheln, aus seinen Darstellungen mehr zu
lernen, als aus einem beliebigen Lehrbuch der Psychologie. Nebenbei entsprach
sein poetisches Talent einer herrschenden Stimmung der Zeit. Man hatte seit
den großen philosophischen Bemühungen zu Anfang dieses Jahrhunderts mit
vielen Illusionen gebrochen, man harte seinen eignen Glauben verloren und
fast die Hoffnung aufgegeben, sich einen neuen Glauben anzueignen. Dieser
Stimmung mußte sehr erwünscht sein, wenn ein reichbegabtes Talent die
glauben- und haltlose Welt in einem verschönernden Licht zeigte. Es war ein
aus Schadenfreude und Rührung gemischtes Gefühl, mit dem man diese Zer¬
gliederung der menschlichen Natur verfolgte, eine Zergliederung, die dem An¬
schein nach nicht darauf ausging, den Schöpfer anzuklagen, sondern ihn gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/414>, abgerufen am 27.05.2024.