Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sein wird. Nur durch diese Anschauung, meint der Philosoph, begreifen wir
die Räthsel der göttlichen Ungerechtigkeit, deS unerbittlichen Schicksals; nur in
dieser Anschauung wird die Existenz des Uebels verständlich, ja noch mehr, sie
wird erträglich. Unsre Seelen empören sich nicht länger gegen ein Leid, wel¬
ches wir uns selbst aufgelegt haben (denn jede Seele ist ihr eigner Gott, ihr
eigner Schöpfer), zur Förderung unsrer höchsten Zwecke und zur Ausdehnung
unsrer Freude. Es gibt Erinnerungen, die uns während unsrer Jugend heimsuchen.
Sie nehmen zuweilen eine unbestimmte Gestalt an und sprechen zu uns in
dumpfer Stimme: "Es war eine Epoche in der Nacht der Zeit, da ein noch
eristirenbes Wesen eristirte, eins aus der absolut unendlichen Zahl ähnlicher
Wesen, welche die absolut unendlichen Reiche deS absolut unendlichen Raumes
bevölkern. Es war und ist nicht in der Macht dieses Wesens, ebensowenig wie
in der unsrigen, durch wirklichen Zuwachs den Genuß seiner Existenz zu ver¬
größern, da die Quantität des Glücks stets dieselbe bleibt. Aber so wie es
in unsrer Macht steht, unser Vergnügen auszudehnen oder zu concentriren, so
kommt eine ähnliche Fähigkeit diesem göttlichen Wesen zu, welches so seine
Ewigkeit in beständigem Wechsel von Selbstsawmlung und Selbstzerstreuung zu¬
bringt. -Das Universum ist nur seine gegenwärtige Ausdehnung; er fühlt jetzt
sein Leben durch eine Unendlichkeit unvollkommener Genüsse, durch die Genüsse
jener unzähligen Dinge, die man als seine Geschöpfe bezeichnet, die aber in
der That nichts Anderes sind, als Jndividualisationen seiner selbst. All diese
Geschöpfe, sowol diejenigen, die man besehe nennt, als diejenigen, denen man
das Leben abspricht, aus keinem andern Grunde, als weil man es nicht wahr¬
nimmt, haben in größer", oder geringerm Maß eine Fähigkeit der Freude und
des Schmerzes; aber die allgemeine Summe ihrer Empfindungen ist genau
der Umfang der Glückseligkeit, der dem göttlichen Wesen mit Recht zukommt,
wenn es sich in sich selbst sammelt. Diese Geschöpfe sind alle mehr over min¬
der bewußte Intelligenzen; bewußt zunächst ihrer eignen Identität, bewußt
sodann, wenn auch nur durch einen schwachen Schimmer, ihrer Identität mit
Gott. Das erste Bewußtsein wird immer schwächer, das zweite immer stärker
Werden, bis endlich diese Myriaden individueller Sterne in einen Stern zu¬
sammenschmelzen. Dann wird der Mensch aufhören, sich als Mensch zu fühlen,
"ut in jene grauenvoll triumphirende Zeit eintreten, wo er sein Sein als das
Aehovahö erkennen wird. Bis dahin laßt uns im Sinn behalten, daß alles
Leben ist, Leben im Leben, das kleinere im' größeren und alles im göttlichen Geist."

Man steht, daß die Naturphilosophie auch in Amerika Anklang findet,
daß Schopenhauer auch dort feilte Geistesverwandten herauserkennen wird, und
daß wir Deutsche aufhören, das Privilegium der Metaphysik zu haben --
"der, wie Balzac etwas weniger höflich sich ausdrückt, wir erfreuen uns nicht
"lehr ausschließlich deS Vorrechts, absurd zu sein.




sein wird. Nur durch diese Anschauung, meint der Philosoph, begreifen wir
die Räthsel der göttlichen Ungerechtigkeit, deS unerbittlichen Schicksals; nur in
dieser Anschauung wird die Existenz des Uebels verständlich, ja noch mehr, sie
wird erträglich. Unsre Seelen empören sich nicht länger gegen ein Leid, wel¬
ches wir uns selbst aufgelegt haben (denn jede Seele ist ihr eigner Gott, ihr
eigner Schöpfer), zur Förderung unsrer höchsten Zwecke und zur Ausdehnung
unsrer Freude. Es gibt Erinnerungen, die uns während unsrer Jugend heimsuchen.
Sie nehmen zuweilen eine unbestimmte Gestalt an und sprechen zu uns in
dumpfer Stimme: „Es war eine Epoche in der Nacht der Zeit, da ein noch
eristirenbes Wesen eristirte, eins aus der absolut unendlichen Zahl ähnlicher
Wesen, welche die absolut unendlichen Reiche deS absolut unendlichen Raumes
bevölkern. Es war und ist nicht in der Macht dieses Wesens, ebensowenig wie
in der unsrigen, durch wirklichen Zuwachs den Genuß seiner Existenz zu ver¬
größern, da die Quantität des Glücks stets dieselbe bleibt. Aber so wie es
in unsrer Macht steht, unser Vergnügen auszudehnen oder zu concentriren, so
kommt eine ähnliche Fähigkeit diesem göttlichen Wesen zu, welches so seine
Ewigkeit in beständigem Wechsel von Selbstsawmlung und Selbstzerstreuung zu¬
bringt. -Das Universum ist nur seine gegenwärtige Ausdehnung; er fühlt jetzt
sein Leben durch eine Unendlichkeit unvollkommener Genüsse, durch die Genüsse
jener unzähligen Dinge, die man als seine Geschöpfe bezeichnet, die aber in
der That nichts Anderes sind, als Jndividualisationen seiner selbst. All diese
Geschöpfe, sowol diejenigen, die man besehe nennt, als diejenigen, denen man
das Leben abspricht, aus keinem andern Grunde, als weil man es nicht wahr¬
nimmt, haben in größer», oder geringerm Maß eine Fähigkeit der Freude und
des Schmerzes; aber die allgemeine Summe ihrer Empfindungen ist genau
der Umfang der Glückseligkeit, der dem göttlichen Wesen mit Recht zukommt,
wenn es sich in sich selbst sammelt. Diese Geschöpfe sind alle mehr over min¬
der bewußte Intelligenzen; bewußt zunächst ihrer eignen Identität, bewußt
sodann, wenn auch nur durch einen schwachen Schimmer, ihrer Identität mit
Gott. Das erste Bewußtsein wird immer schwächer, das zweite immer stärker
Werden, bis endlich diese Myriaden individueller Sterne in einen Stern zu¬
sammenschmelzen. Dann wird der Mensch aufhören, sich als Mensch zu fühlen,
"ut in jene grauenvoll triumphirende Zeit eintreten, wo er sein Sein als das
Aehovahö erkennen wird. Bis dahin laßt uns im Sinn behalten, daß alles
Leben ist, Leben im Leben, das kleinere im' größeren und alles im göttlichen Geist."

Man steht, daß die Naturphilosophie auch in Amerika Anklang findet,
daß Schopenhauer auch dort feilte Geistesverwandten herauserkennen wird, und
daß wir Deutsche aufhören, das Privilegium der Metaphysik zu haben —
"der, wie Balzac etwas weniger höflich sich ausdrückt, wir erfreuen uns nicht
"lehr ausschließlich deS Vorrechts, absurd zu sein.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0151" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101678"/>
          <p xml:id="ID_360" prev="#ID_359"> sein wird. Nur durch diese Anschauung, meint der Philosoph, begreifen wir<lb/>
die Räthsel der göttlichen Ungerechtigkeit, deS unerbittlichen Schicksals; nur in<lb/>
dieser Anschauung wird die Existenz des Uebels verständlich, ja noch mehr, sie<lb/>
wird erträglich. Unsre Seelen empören sich nicht länger gegen ein Leid, wel¬<lb/>
ches wir uns selbst aufgelegt haben (denn jede Seele ist ihr eigner Gott, ihr<lb/>
eigner Schöpfer), zur Förderung unsrer höchsten Zwecke und zur Ausdehnung<lb/>
unsrer Freude. Es gibt Erinnerungen, die uns während unsrer Jugend heimsuchen.<lb/>
Sie nehmen zuweilen eine unbestimmte Gestalt an und sprechen zu uns in<lb/>
dumpfer Stimme: &#x201E;Es war eine Epoche in der Nacht der Zeit, da ein noch<lb/>
eristirenbes Wesen eristirte, eins aus der absolut unendlichen Zahl ähnlicher<lb/>
Wesen, welche die absolut unendlichen Reiche deS absolut unendlichen Raumes<lb/>
bevölkern. Es war und ist nicht in der Macht dieses Wesens, ebensowenig wie<lb/>
in der unsrigen, durch wirklichen Zuwachs den Genuß seiner Existenz zu ver¬<lb/>
größern, da die Quantität des Glücks stets dieselbe bleibt. Aber so wie es<lb/>
in unsrer Macht steht, unser Vergnügen auszudehnen oder zu concentriren, so<lb/>
kommt eine ähnliche Fähigkeit diesem göttlichen Wesen zu, welches so seine<lb/>
Ewigkeit in beständigem Wechsel von Selbstsawmlung und Selbstzerstreuung zu¬<lb/>
bringt. -Das Universum ist nur seine gegenwärtige Ausdehnung; er fühlt jetzt<lb/>
sein Leben durch eine Unendlichkeit unvollkommener Genüsse, durch die Genüsse<lb/>
jener unzähligen Dinge, die man als seine Geschöpfe bezeichnet, die aber in<lb/>
der That nichts Anderes sind, als Jndividualisationen seiner selbst. All diese<lb/>
Geschöpfe, sowol diejenigen, die man besehe nennt, als diejenigen, denen man<lb/>
das Leben abspricht, aus keinem andern Grunde, als weil man es nicht wahr¬<lb/>
nimmt, haben in größer», oder geringerm Maß eine Fähigkeit der Freude und<lb/>
des Schmerzes; aber die allgemeine Summe ihrer Empfindungen ist genau<lb/>
der Umfang der Glückseligkeit, der dem göttlichen Wesen mit Recht zukommt,<lb/>
wenn es sich in sich selbst sammelt. Diese Geschöpfe sind alle mehr over min¬<lb/>
der bewußte Intelligenzen; bewußt zunächst ihrer eignen Identität, bewußt<lb/>
sodann, wenn auch nur durch einen schwachen Schimmer, ihrer Identität mit<lb/>
Gott. Das erste Bewußtsein wird immer schwächer, das zweite immer stärker<lb/>
Werden, bis endlich diese Myriaden individueller Sterne in einen Stern zu¬<lb/>
sammenschmelzen. Dann wird der Mensch aufhören, sich als Mensch zu fühlen,<lb/>
"ut in jene grauenvoll triumphirende Zeit eintreten, wo er sein Sein als das<lb/>
Aehovahö erkennen wird. Bis dahin laßt uns im Sinn behalten, daß alles<lb/>
Leben ist, Leben im Leben, das kleinere im' größeren und alles im göttlichen Geist."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_361"> Man steht, daß die Naturphilosophie auch in Amerika Anklang findet,<lb/>
daß Schopenhauer auch dort feilte Geistesverwandten herauserkennen wird, und<lb/>
daß wir Deutsche aufhören, das Privilegium der Metaphysik zu haben &#x2014;<lb/>
"der, wie Balzac etwas weniger höflich sich ausdrückt, wir erfreuen uns nicht<lb/>
"lehr ausschließlich deS Vorrechts, absurd zu sein.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0151] sein wird. Nur durch diese Anschauung, meint der Philosoph, begreifen wir die Räthsel der göttlichen Ungerechtigkeit, deS unerbittlichen Schicksals; nur in dieser Anschauung wird die Existenz des Uebels verständlich, ja noch mehr, sie wird erträglich. Unsre Seelen empören sich nicht länger gegen ein Leid, wel¬ ches wir uns selbst aufgelegt haben (denn jede Seele ist ihr eigner Gott, ihr eigner Schöpfer), zur Förderung unsrer höchsten Zwecke und zur Ausdehnung unsrer Freude. Es gibt Erinnerungen, die uns während unsrer Jugend heimsuchen. Sie nehmen zuweilen eine unbestimmte Gestalt an und sprechen zu uns in dumpfer Stimme: „Es war eine Epoche in der Nacht der Zeit, da ein noch eristirenbes Wesen eristirte, eins aus der absolut unendlichen Zahl ähnlicher Wesen, welche die absolut unendlichen Reiche deS absolut unendlichen Raumes bevölkern. Es war und ist nicht in der Macht dieses Wesens, ebensowenig wie in der unsrigen, durch wirklichen Zuwachs den Genuß seiner Existenz zu ver¬ größern, da die Quantität des Glücks stets dieselbe bleibt. Aber so wie es in unsrer Macht steht, unser Vergnügen auszudehnen oder zu concentriren, so kommt eine ähnliche Fähigkeit diesem göttlichen Wesen zu, welches so seine Ewigkeit in beständigem Wechsel von Selbstsawmlung und Selbstzerstreuung zu¬ bringt. -Das Universum ist nur seine gegenwärtige Ausdehnung; er fühlt jetzt sein Leben durch eine Unendlichkeit unvollkommener Genüsse, durch die Genüsse jener unzähligen Dinge, die man als seine Geschöpfe bezeichnet, die aber in der That nichts Anderes sind, als Jndividualisationen seiner selbst. All diese Geschöpfe, sowol diejenigen, die man besehe nennt, als diejenigen, denen man das Leben abspricht, aus keinem andern Grunde, als weil man es nicht wahr¬ nimmt, haben in größer», oder geringerm Maß eine Fähigkeit der Freude und des Schmerzes; aber die allgemeine Summe ihrer Empfindungen ist genau der Umfang der Glückseligkeit, der dem göttlichen Wesen mit Recht zukommt, wenn es sich in sich selbst sammelt. Diese Geschöpfe sind alle mehr over min¬ der bewußte Intelligenzen; bewußt zunächst ihrer eignen Identität, bewußt sodann, wenn auch nur durch einen schwachen Schimmer, ihrer Identität mit Gott. Das erste Bewußtsein wird immer schwächer, das zweite immer stärker Werden, bis endlich diese Myriaden individueller Sterne in einen Stern zu¬ sammenschmelzen. Dann wird der Mensch aufhören, sich als Mensch zu fühlen, "ut in jene grauenvoll triumphirende Zeit eintreten, wo er sein Sein als das Aehovahö erkennen wird. Bis dahin laßt uns im Sinn behalten, daß alles Leben ist, Leben im Leben, das kleinere im' größeren und alles im göttlichen Geist." Man steht, daß die Naturphilosophie auch in Amerika Anklang findet, daß Schopenhauer auch dort feilte Geistesverwandten herauserkennen wird, und daß wir Deutsche aufhören, das Privilegium der Metaphysik zu haben — "der, wie Balzac etwas weniger höflich sich ausdrückt, wir erfreuen uns nicht "lehr ausschließlich deS Vorrechts, absurd zu sein.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/151
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/151>, abgerufen am 22.05.2024.