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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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Also die Censur! -- Aber auch diese befindet sich in einer üblen Lage.
Der politische Radicalismus kann in der Presse, wenn man alle Rücksichten
bei Seite setzt, allerdings unterdrückt werden; man darf nur verbieten, irgend
etwas über Politik zu drucken. Freilich würde auch das dem Verfahren des
Straußes gleichen, der dem Jager zu entgehen glaubt, wenn er seinen Kops
versteckt, um ihn nicht zu sehen. -- Aber die Censur auf dem Grenzgebiet der
Religion und Philosophie ist nicht durchzuführen. Die Materialisten können
ganz bequem alle Ausdrücke, die an die Religion erinnern, z. B. Gott, Un¬
sterblichkeit u. s. w., vermeiden. Will man etwa alle naturwissenschaftlichen
Schriften gleichfalls untersagen? '

Es muß also eine Censur der Gesinnung eingeführt werden, oder, was
dasselbe sagen will, eine Inquisition. Diejenigen Männer, von denen man
voraussetzt, daß sie materialistischen Ansichten huldigen (d. l). nach der Defi¬
nition unsers Pastors, daß sie nicht jeden Punkt der symbolischen Bücher be¬
schwören können), dürfen überhaupt nichts drucken lassen. Die einzige compe-
tente Behörde, darüber zu entscheiden, ist die Geistlichkeit. Dieser muß also die
Censur anvertraut werden. Bor jedes Lehrbuch der Naturgeschichte muß der
Verfasser ein Glaubensbekenntniß setzen.

Das wären die ersten vorläufigen Maßregeln. Nachher wird man sich
überzeugen, daß auch diese noch nicht ausreichen; denn wenn die Materialisten
auch nichts dürfen drucken lassen, so verbreiten sie'ihre Meinungen mündlich,
und einer trägt es dem andern zu. Man wird also auch den mündlichen Austausch
materialistischer Ansichten untersagen müssen, und hier tritt wieder die Schwierig¬
keit ein, für ein Gespräch unter vier Augen Zeugen aufzufinden. Am besten
ist es also auch in dieser Beziehung, nicht bei Nepressivmaßrcgeln stehen zu
bleiben, sondern zu Präventivmaßregeln überzugehen. Wer materialistischer
o'der ketzerischer Ansichten angeklagt wird, muß sich vor dem geistlichen Amt ver¬
antworten, und wer sich nicht zu vertheidigen weiß, wird verurtheilt -- zum
Scheiterhaufen? -- pfui doch! im 19. Jahrhundert ist man nicht so barbarisch;
aber es wird ihm untersagt, irgend eine amtliche Praris zutreiben, der Staats¬
diener wird natürlich zuerst abgesetzt, der Lehrer cassirt, dem Arzt die Ausübung
seiner Praris untersagt. Aber auch das genügt noch nicht; die Materialisten
heben ja den Unterschied deö Guten und des Bösen auf, wie man sagt, also
steht jeder Materialist im dringenden Verdacht, ein Spitzbube zu sein, und
solchen Menschen sollte man das Recht zugestehen, Handel lind Wandel zu
treiben? Natürlich haben ihre Hauptbücher ebensowenig juristischen Wertlj, wie
ihr Zeugniß vor Gericht. Eine Handlung, die mit der Religion in "irgend
einem Zusammenhang steht, dürfen sie nicht ausüben; sie dürfen z, B. nicht
heirathen; wenn aber einer vor dem Erlaß des neuen Gesetzes schon ver-
heirathet ist, so muß ihm die Erziehung der Kinder genommen werden u. s. w.


Also die Censur! — Aber auch diese befindet sich in einer üblen Lage.
Der politische Radicalismus kann in der Presse, wenn man alle Rücksichten
bei Seite setzt, allerdings unterdrückt werden; man darf nur verbieten, irgend
etwas über Politik zu drucken. Freilich würde auch das dem Verfahren des
Straußes gleichen, der dem Jager zu entgehen glaubt, wenn er seinen Kops
versteckt, um ihn nicht zu sehen. — Aber die Censur auf dem Grenzgebiet der
Religion und Philosophie ist nicht durchzuführen. Die Materialisten können
ganz bequem alle Ausdrücke, die an die Religion erinnern, z. B. Gott, Un¬
sterblichkeit u. s. w., vermeiden. Will man etwa alle naturwissenschaftlichen
Schriften gleichfalls untersagen? '

Es muß also eine Censur der Gesinnung eingeführt werden, oder, was
dasselbe sagen will, eine Inquisition. Diejenigen Männer, von denen man
voraussetzt, daß sie materialistischen Ansichten huldigen (d. l). nach der Defi¬
nition unsers Pastors, daß sie nicht jeden Punkt der symbolischen Bücher be¬
schwören können), dürfen überhaupt nichts drucken lassen. Die einzige compe-
tente Behörde, darüber zu entscheiden, ist die Geistlichkeit. Dieser muß also die
Censur anvertraut werden. Bor jedes Lehrbuch der Naturgeschichte muß der
Verfasser ein Glaubensbekenntniß setzen.

Das wären die ersten vorläufigen Maßregeln. Nachher wird man sich
überzeugen, daß auch diese noch nicht ausreichen; denn wenn die Materialisten
auch nichts dürfen drucken lassen, so verbreiten sie'ihre Meinungen mündlich,
und einer trägt es dem andern zu. Man wird also auch den mündlichen Austausch
materialistischer Ansichten untersagen müssen, und hier tritt wieder die Schwierig¬
keit ein, für ein Gespräch unter vier Augen Zeugen aufzufinden. Am besten
ist es also auch in dieser Beziehung, nicht bei Nepressivmaßrcgeln stehen zu
bleiben, sondern zu Präventivmaßregeln überzugehen. Wer materialistischer
o'der ketzerischer Ansichten angeklagt wird, muß sich vor dem geistlichen Amt ver¬
antworten, und wer sich nicht zu vertheidigen weiß, wird verurtheilt — zum
Scheiterhaufen? — pfui doch! im 19. Jahrhundert ist man nicht so barbarisch;
aber es wird ihm untersagt, irgend eine amtliche Praris zutreiben, der Staats¬
diener wird natürlich zuerst abgesetzt, der Lehrer cassirt, dem Arzt die Ausübung
seiner Praris untersagt. Aber auch das genügt noch nicht; die Materialisten
heben ja den Unterschied deö Guten und des Bösen auf, wie man sagt, also
steht jeder Materialist im dringenden Verdacht, ein Spitzbube zu sein, und
solchen Menschen sollte man das Recht zugestehen, Handel lind Wandel zu
treiben? Natürlich haben ihre Hauptbücher ebensowenig juristischen Wertlj, wie
ihr Zeugniß vor Gericht. Eine Handlung, die mit der Religion in „irgend
einem Zusammenhang steht, dürfen sie nicht ausüben; sie dürfen z, B. nicht
heirathen; wenn aber einer vor dem Erlaß des neuen Gesetzes schon ver-
heirathet ist, so muß ihm die Erziehung der Kinder genommen werden u. s. w.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/76>, abgerufen am 22.05.2024.