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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Momenten zusammen, die ihm in scharfer Beleuchtung aufgehen: eine Methode
der Charakteristik, die man mit Unrecht verwirft, denn auch in der wirklichen
Beobachtung treffen wir bei vielen scharfen Menschenkennern etwas Aehnliches
an; aber sie verlangt eine sehr scharfe Kritik des Einzelnen, und darin ist
Auerbach nicht correct genug. So sorgt seine Heldin schon als Kind mütterlich
für einen jüngern Bruder, der nie im Stande ist, einen Entschluß zu fassen.
Einmal beträgt er sich grob gegen sie, als sie ihm grade etwas recht Gutes
"wiesen hat; statt ihm darüber zu zürnen, freut sie sich, in dem Schwächling
noch so viel Kraft zu finden. So kann vielleicht eine ältere Frau, eine Mutter
fühlen, aber nicht ein Kind; und sie würde auch ästhetisch einen bessern Ein¬
druck aus uns macheu, wenn sie etwas mehr Fleisch und Blut zeigte.

Die Neigung zur Bildlichkeit, zur Symbolik, zur Eremplification beein¬
trächtigt zuweilen auch deu Fluß der Erzählung. So führt uns der Dichter
bei dieser Novelle sofort w mectias los. indem er uns eine höchst seltsame
Scene zwischen zwei Kindern vorführt, die er dann durch ihre Vorgeschichte
erläutert. Statt nun aber bei jener ersten Scene stehn zu bleiben, und irgend
etwas daraus zu entwickeln, läßt er sie fallen und erzählt wieder etwas Neues.
Wenn nun jene Scene an sich irgend einen Anfang und ein Ende hätte,
so ließe man das sich noch eher gefallen, wenn auch schwerlich am Anfang
einer Erzählung; aber sie ist an sich ebenso unbedeutend als seltsam, und so
muß man schon ein großes Vertrauen zu dem Genius des Dichters mitbringen,
um nicht durch diesen Anfang abgeschreckt zu werden; ein Vertrauen, welches
freilich, wie wir schon oben bemerkt haben, im weitern Verlauf vollkommen
gerechtfertigt wird.

Das große Interesse, welches wir, wie alle unsere Landsleute, an dem
schönen Talent des Dichters nehmen, der in 'der ersten Blüthe seiner männ¬
lichen Jahre steht, und von dem wir daher noch, viel zu hoffen und zu er¬
warten haben, gibt uns die Berechtigung zu einem Rath und zu einer
Warnung. Auerbach hat in der Poesie ein neues Genre zwar nicht entdeckt,
aber durch sein Talent und durch seine Stellung in der Mitte zweier Cultur¬
schichten den Gebildeten zugänglich gemacht. Er hat Vortreffliches darin ge¬
leistet und wird gewiß noch über einen großen Vorrath von Stoffen disponiren,
die eine ähnliche Behandlung zulassen. Aber für die Entwicklung seines
Talents wäre es nicht blos heilsam, sondern, wie wir fest überzeugt sind,
nothwendig, baß er diese Stoffe eine Zeitlang fallen ließe; nicht blos des
Publicums wegen, welches doch auf die Dauer dieser etwas einförmigen Be¬
gebenheiten in dem engen Kreise des Landlebens müde werden dürfte, sondern
weil er selber in Gefahr ist, falsch zu beobachten. Mit Jeremias Gotthelf
war es ein ganz anderer Fall. Gotthelf lebte nicht nur fortdauernd unter den
Menschen, die er schildert, sondern er gehörte zu ihnen, er sprach ihre Sprache,


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Momenten zusammen, die ihm in scharfer Beleuchtung aufgehen: eine Methode
der Charakteristik, die man mit Unrecht verwirft, denn auch in der wirklichen
Beobachtung treffen wir bei vielen scharfen Menschenkennern etwas Aehnliches
an; aber sie verlangt eine sehr scharfe Kritik des Einzelnen, und darin ist
Auerbach nicht correct genug. So sorgt seine Heldin schon als Kind mütterlich
für einen jüngern Bruder, der nie im Stande ist, einen Entschluß zu fassen.
Einmal beträgt er sich grob gegen sie, als sie ihm grade etwas recht Gutes
«wiesen hat; statt ihm darüber zu zürnen, freut sie sich, in dem Schwächling
noch so viel Kraft zu finden. So kann vielleicht eine ältere Frau, eine Mutter
fühlen, aber nicht ein Kind; und sie würde auch ästhetisch einen bessern Ein¬
druck aus uns macheu, wenn sie etwas mehr Fleisch und Blut zeigte.

Die Neigung zur Bildlichkeit, zur Symbolik, zur Eremplification beein¬
trächtigt zuweilen auch deu Fluß der Erzählung. So führt uns der Dichter
bei dieser Novelle sofort w mectias los. indem er uns eine höchst seltsame
Scene zwischen zwei Kindern vorführt, die er dann durch ihre Vorgeschichte
erläutert. Statt nun aber bei jener ersten Scene stehn zu bleiben, und irgend
etwas daraus zu entwickeln, läßt er sie fallen und erzählt wieder etwas Neues.
Wenn nun jene Scene an sich irgend einen Anfang und ein Ende hätte,
so ließe man das sich noch eher gefallen, wenn auch schwerlich am Anfang
einer Erzählung; aber sie ist an sich ebenso unbedeutend als seltsam, und so
muß man schon ein großes Vertrauen zu dem Genius des Dichters mitbringen,
um nicht durch diesen Anfang abgeschreckt zu werden; ein Vertrauen, welches
freilich, wie wir schon oben bemerkt haben, im weitern Verlauf vollkommen
gerechtfertigt wird.

Das große Interesse, welches wir, wie alle unsere Landsleute, an dem
schönen Talent des Dichters nehmen, der in 'der ersten Blüthe seiner männ¬
lichen Jahre steht, und von dem wir daher noch, viel zu hoffen und zu er¬
warten haben, gibt uns die Berechtigung zu einem Rath und zu einer
Warnung. Auerbach hat in der Poesie ein neues Genre zwar nicht entdeckt,
aber durch sein Talent und durch seine Stellung in der Mitte zweier Cultur¬
schichten den Gebildeten zugänglich gemacht. Er hat Vortreffliches darin ge¬
leistet und wird gewiß noch über einen großen Vorrath von Stoffen disponiren,
die eine ähnliche Behandlung zulassen. Aber für die Entwicklung seines
Talents wäre es nicht blos heilsam, sondern, wie wir fest überzeugt sind,
nothwendig, baß er diese Stoffe eine Zeitlang fallen ließe; nicht blos des
Publicums wegen, welches doch auf die Dauer dieser etwas einförmigen Be¬
gebenheiten in dem engen Kreise des Landlebens müde werden dürfte, sondern
weil er selber in Gefahr ist, falsch zu beobachten. Mit Jeremias Gotthelf
war es ein ganz anderer Fall. Gotthelf lebte nicht nur fortdauernd unter den
Menschen, die er schildert, sondern er gehörte zu ihnen, er sprach ihre Sprache,


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[0139] Momenten zusammen, die ihm in scharfer Beleuchtung aufgehen: eine Methode der Charakteristik, die man mit Unrecht verwirft, denn auch in der wirklichen Beobachtung treffen wir bei vielen scharfen Menschenkennern etwas Aehnliches an; aber sie verlangt eine sehr scharfe Kritik des Einzelnen, und darin ist Auerbach nicht correct genug. So sorgt seine Heldin schon als Kind mütterlich für einen jüngern Bruder, der nie im Stande ist, einen Entschluß zu fassen. Einmal beträgt er sich grob gegen sie, als sie ihm grade etwas recht Gutes «wiesen hat; statt ihm darüber zu zürnen, freut sie sich, in dem Schwächling noch so viel Kraft zu finden. So kann vielleicht eine ältere Frau, eine Mutter fühlen, aber nicht ein Kind; und sie würde auch ästhetisch einen bessern Ein¬ druck aus uns macheu, wenn sie etwas mehr Fleisch und Blut zeigte. Die Neigung zur Bildlichkeit, zur Symbolik, zur Eremplification beein¬ trächtigt zuweilen auch deu Fluß der Erzählung. So führt uns der Dichter bei dieser Novelle sofort w mectias los. indem er uns eine höchst seltsame Scene zwischen zwei Kindern vorführt, die er dann durch ihre Vorgeschichte erläutert. Statt nun aber bei jener ersten Scene stehn zu bleiben, und irgend etwas daraus zu entwickeln, läßt er sie fallen und erzählt wieder etwas Neues. Wenn nun jene Scene an sich irgend einen Anfang und ein Ende hätte, so ließe man das sich noch eher gefallen, wenn auch schwerlich am Anfang einer Erzählung; aber sie ist an sich ebenso unbedeutend als seltsam, und so muß man schon ein großes Vertrauen zu dem Genius des Dichters mitbringen, um nicht durch diesen Anfang abgeschreckt zu werden; ein Vertrauen, welches freilich, wie wir schon oben bemerkt haben, im weitern Verlauf vollkommen gerechtfertigt wird. Das große Interesse, welches wir, wie alle unsere Landsleute, an dem schönen Talent des Dichters nehmen, der in 'der ersten Blüthe seiner männ¬ lichen Jahre steht, und von dem wir daher noch, viel zu hoffen und zu er¬ warten haben, gibt uns die Berechtigung zu einem Rath und zu einer Warnung. Auerbach hat in der Poesie ein neues Genre zwar nicht entdeckt, aber durch sein Talent und durch seine Stellung in der Mitte zweier Cultur¬ schichten den Gebildeten zugänglich gemacht. Er hat Vortreffliches darin ge¬ leistet und wird gewiß noch über einen großen Vorrath von Stoffen disponiren, die eine ähnliche Behandlung zulassen. Aber für die Entwicklung seines Talents wäre es nicht blos heilsam, sondern, wie wir fest überzeugt sind, nothwendig, baß er diese Stoffe eine Zeitlang fallen ließe; nicht blos des Publicums wegen, welches doch auf die Dauer dieser etwas einförmigen Be¬ gebenheiten in dem engen Kreise des Landlebens müde werden dürfte, sondern weil er selber in Gefahr ist, falsch zu beobachten. Mit Jeremias Gotthelf war es ein ganz anderer Fall. Gotthelf lebte nicht nur fortdauernd unter den Menschen, die er schildert, sondern er gehörte zu ihnen, er sprach ihre Sprache, 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/139>, abgerufen am 09.05.2024.