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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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erlaubt er sich sogar eine Kritik, freilich nach seiner gewöhnlichen Methode,
nur wenn der Erfolg den großartigen Entwürfen Unrecht gibt. Ein gelun¬
genes Unternehmen, auch das verwegenste, abenteuerlichste, zu verurtheilen,
dazu ist Thiers zu sehr Franzose. Charakteristisch ist, daß ihn die Freude über
seine eigne Fähigkeit, den administrativen und finanziellen Maßregeln des
Kaisers zu folgen, so hinreißt, daß er seine eignen politischen Principien
darüber ganz vergißt. Zuweilen fallen sie ihm wieder ein, und er sucht dann
auszugleichen, verfällt aber regelmäßig in die Sophistik. Die Vorliebe sür
bestimmte Persönlichkeiten, die man bei ihm vermuthete, namentlich sür Talley-
rand, seinen ehemaligen Beschützer, findet sich keineswegs. Nur dem Kaiser
gegenüber ist er nicht ganz unbefangen. Die Nebenfiguren werden mit ebenso
seinen als sichern Strichen gezeichnet, und auf Napoleon selbst wirft er in
Bezug auf einzelne Handlungen, bereit innerer Zusammenhang vorher weniger
ermittelt war, namentlich auf das Unternehmen gegen Spanien und gegen
England, ein überraschendes Licht. Befremden muß bei dem alten Voltairianer
die warme Apologie des Concordates; freilich sind seine Gründe durchaus
politischer Art und klingen zum Theil ziemlich frivol. "Jede menschliche Ge¬
sellschaft bedarf eines religiösen Glaubens, eines Cultus. . . . Mitten in den
Widersprüchen des Lebens empfindet der Mensch das gebieterische, unwider¬
stehliche Bedürfniß, sich über alle diese Gegenstände einen abgeschlossenen
Glauben zu bilden, gleichviel, ob wahr oder falsch, erhaben oder lächerlich....
Einen solchen Glauben kann man nicht erfinden, wenn er nicht seit Jahr¬
hunderten besteht .... Man durfte aber auch nichts erfinden, denn dieser
Glaube bestand in der alten Christusreligion, in der Einheit der katholischen
Kirche. Sie war im Sturm der Ereignisse einen Augenblick verschwunden;
sobald aber das Bedürfniß des Glaubens wiedergekehrt war, fand sie sich im
Grunde der Seele wieder. . . . Voltaire und Friedrich der Große hatten die
Religion mit ihren Spöttereien verfolgt, und das Jahrhundert hatte sich ihnen
angeschlossen. Nur der General Bonaparte, der ebensoviel Geist hatte, als
Voltaire, und mehr Ruhm, als Friedrich, konnte durch das Beispiel seiner
Ehrfurcht diese Spöttereien beschämen." Die Richtigkeit dieser Beobachtung
zugegeben, bleibt Thiers doch die Erklärung darüber schuldig, inwiefern die
unbedingte Rückkehr zu den alten Formen geboten war, da Frankreich Macht
genug besaß, die Zukunft seiner Bildung auch gegen den mächtigen Bundes¬
genossen zu sichern, den es in diesem Concordat anrief.

Man hat Thiers zuweilen wegen der Eitelkeit veispottet, mit der er sich
seinem großen Vorbild zu nähern suchte. Abgesehen von der Größe, ist eine
gewisse Verwandtschaft doch nicht zu verkennen. Denn wenn Napoleon in seiner
gigantischen Thätigkeit und seinem unruhig geschäftigen Geist, der teilten
Augenblick des Stillstandes ertrug, in dem Adlerblick, womit er die verwickelt-


erlaubt er sich sogar eine Kritik, freilich nach seiner gewöhnlichen Methode,
nur wenn der Erfolg den großartigen Entwürfen Unrecht gibt. Ein gelun¬
genes Unternehmen, auch das verwegenste, abenteuerlichste, zu verurtheilen,
dazu ist Thiers zu sehr Franzose. Charakteristisch ist, daß ihn die Freude über
seine eigne Fähigkeit, den administrativen und finanziellen Maßregeln des
Kaisers zu folgen, so hinreißt, daß er seine eignen politischen Principien
darüber ganz vergißt. Zuweilen fallen sie ihm wieder ein, und er sucht dann
auszugleichen, verfällt aber regelmäßig in die Sophistik. Die Vorliebe sür
bestimmte Persönlichkeiten, die man bei ihm vermuthete, namentlich sür Talley-
rand, seinen ehemaligen Beschützer, findet sich keineswegs. Nur dem Kaiser
gegenüber ist er nicht ganz unbefangen. Die Nebenfiguren werden mit ebenso
seinen als sichern Strichen gezeichnet, und auf Napoleon selbst wirft er in
Bezug auf einzelne Handlungen, bereit innerer Zusammenhang vorher weniger
ermittelt war, namentlich auf das Unternehmen gegen Spanien und gegen
England, ein überraschendes Licht. Befremden muß bei dem alten Voltairianer
die warme Apologie des Concordates; freilich sind seine Gründe durchaus
politischer Art und klingen zum Theil ziemlich frivol. „Jede menschliche Ge¬
sellschaft bedarf eines religiösen Glaubens, eines Cultus. . . . Mitten in den
Widersprüchen des Lebens empfindet der Mensch das gebieterische, unwider¬
stehliche Bedürfniß, sich über alle diese Gegenstände einen abgeschlossenen
Glauben zu bilden, gleichviel, ob wahr oder falsch, erhaben oder lächerlich....
Einen solchen Glauben kann man nicht erfinden, wenn er nicht seit Jahr¬
hunderten besteht .... Man durfte aber auch nichts erfinden, denn dieser
Glaube bestand in der alten Christusreligion, in der Einheit der katholischen
Kirche. Sie war im Sturm der Ereignisse einen Augenblick verschwunden;
sobald aber das Bedürfniß des Glaubens wiedergekehrt war, fand sie sich im
Grunde der Seele wieder. . . . Voltaire und Friedrich der Große hatten die
Religion mit ihren Spöttereien verfolgt, und das Jahrhundert hatte sich ihnen
angeschlossen. Nur der General Bonaparte, der ebensoviel Geist hatte, als
Voltaire, und mehr Ruhm, als Friedrich, konnte durch das Beispiel seiner
Ehrfurcht diese Spöttereien beschämen." Die Richtigkeit dieser Beobachtung
zugegeben, bleibt Thiers doch die Erklärung darüber schuldig, inwiefern die
unbedingte Rückkehr zu den alten Formen geboten war, da Frankreich Macht
genug besaß, die Zukunft seiner Bildung auch gegen den mächtigen Bundes¬
genossen zu sichern, den es in diesem Concordat anrief.

Man hat Thiers zuweilen wegen der Eitelkeit veispottet, mit der er sich
seinem großen Vorbild zu nähern suchte. Abgesehen von der Größe, ist eine
gewisse Verwandtschaft doch nicht zu verkennen. Denn wenn Napoleon in seiner
gigantischen Thätigkeit und seinem unruhig geschäftigen Geist, der teilten
Augenblick des Stillstandes ertrug, in dem Adlerblick, womit er die verwickelt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/228>, abgerufen am 18.05.2024.