Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Spleen und Flüchtlingsverdruß zusammengesetzt. ES fehlt ihnen der Großvater¬
stuhl der heimathlichen Stube, es fehlen die Eltern, Geschwister und Freunde,
kein Mensch kennt sie, kein Mensch sucht sie; in den öffentlichen Localen ist
keine Geselligkeit; bessere Kreise erschließen sich nur besseren Empfehlungen;
das londoner Klima ist schändlich; englisches Bier macht das Blut schwer;
daS Leben ist theuer; aus eine gewisse Berühmtheit, wie man sie, Dank
einer mittelmäßigen Novelle, in der kleinen Hcimathsstadt vor Jahren errungen
hatte, ist keine Aussicht; auf eine Aenderung der Verhältnisse auch keine -- -- man
muß es daher natürlich finden, wenn der fremde Journalist mürrisch, hypochon¬
drisch, gallig wird, wenn ihm das Leben hier ein Greuel, England trotz feines
grünen Rasens und seiner persönlichen Freiheit eine Hölle auf Erden ist. Es
flanirt sich nicht angenehm in einer Stadt, die ganz und gar dem Erwerb
gewidmet ist, und kein Mensch ist so sehr Freiheitsschwärmer, daß er sich mit
dem Gedanken an die Habeas Corpusacte über ein schlechtes Mittagsmahl
oder einen langweiligen Tischnachbar trösten könnte. Ein Flüchtling, der den
Händen der Polizei glücklich entronnen, in Dover landet, küßt begeistert die
gastliche Scholle, wo der Mensch seine Meinung frei bekennen darf. Unbillig
freilich wäre es, von demselben Flüchtling zu verlangen, er müsse sein Leben lang
das Puppenspiel der Hochkirche, die Perücke des Lordkanzlers und die Füße der
Engländerinnen schön finden, weil ihn die Polizei nicht ohne weiteres ins Loch
sperren kann. Kein vernünftiger Mensch fordert Vergötterung einer Schöpfung,
aber von vernünftigen Menschen hat man ein Recht zu fordern, daß sie ihre
individuellen Mißstimmungen nach Möglichkeit bei Seite legen, wenn sie über
ein Land und seine Institutionen Vortrüge halten. Das thun bekannte Kor¬
respondenten aus England nicht.

Der in London - lebende deutsche Journalist kann seine Verstimmung nur
auf zwei Wegen äußern. Entweder er stürzt sich in die Themse, wo sie am
schmuzigsten ist. Aber davon kann man nicht leben. Nun wol, so wird er
ein Schüler Urquharts. Dadurch ist seine physische Hypochondrie physisch er¬
gänzt; von nun an hat er einen Parteistandpunkt; er gehört einer politischen
Fraction an, allerdings blos einer specifisch englischen und zwar einer winzig
kleinen. Dafür wird ihm eine Ehre zu Theil, die ihn stutzig machen sollte --
die Ehre, von allen reactionären Blättern Deutschlands nachgedruckt zu wer¬
den. Das geschieht allerdings zunächst wider seinen Willen. Aber es gibt
Menschen, die einen schmählichen Tod in der Oeffentlichkeit, selbst am Galgen,
einem glückseligen, ungekannten Leben in der Wüste vorziehn.

Wird jemand in die Schule Urquharts aufgenommen, so übernimmt er
die Verpflichtung: Lord Palmerston so oft, und weit öfter noch, als es sich
mit der Geduld seiner Leser verträgt, des Hochverrats zu bezüchtigen. Im
Uebrigen hat er ziemlich freie Hand.


Spleen und Flüchtlingsverdruß zusammengesetzt. ES fehlt ihnen der Großvater¬
stuhl der heimathlichen Stube, es fehlen die Eltern, Geschwister und Freunde,
kein Mensch kennt sie, kein Mensch sucht sie; in den öffentlichen Localen ist
keine Geselligkeit; bessere Kreise erschließen sich nur besseren Empfehlungen;
das londoner Klima ist schändlich; englisches Bier macht das Blut schwer;
daS Leben ist theuer; aus eine gewisse Berühmtheit, wie man sie, Dank
einer mittelmäßigen Novelle, in der kleinen Hcimathsstadt vor Jahren errungen
hatte, ist keine Aussicht; auf eine Aenderung der Verhältnisse auch keine — — man
muß es daher natürlich finden, wenn der fremde Journalist mürrisch, hypochon¬
drisch, gallig wird, wenn ihm das Leben hier ein Greuel, England trotz feines
grünen Rasens und seiner persönlichen Freiheit eine Hölle auf Erden ist. Es
flanirt sich nicht angenehm in einer Stadt, die ganz und gar dem Erwerb
gewidmet ist, und kein Mensch ist so sehr Freiheitsschwärmer, daß er sich mit
dem Gedanken an die Habeas Corpusacte über ein schlechtes Mittagsmahl
oder einen langweiligen Tischnachbar trösten könnte. Ein Flüchtling, der den
Händen der Polizei glücklich entronnen, in Dover landet, küßt begeistert die
gastliche Scholle, wo der Mensch seine Meinung frei bekennen darf. Unbillig
freilich wäre es, von demselben Flüchtling zu verlangen, er müsse sein Leben lang
das Puppenspiel der Hochkirche, die Perücke des Lordkanzlers und die Füße der
Engländerinnen schön finden, weil ihn die Polizei nicht ohne weiteres ins Loch
sperren kann. Kein vernünftiger Mensch fordert Vergötterung einer Schöpfung,
aber von vernünftigen Menschen hat man ein Recht zu fordern, daß sie ihre
individuellen Mißstimmungen nach Möglichkeit bei Seite legen, wenn sie über
ein Land und seine Institutionen Vortrüge halten. Das thun bekannte Kor¬
respondenten aus England nicht.

Der in London - lebende deutsche Journalist kann seine Verstimmung nur
auf zwei Wegen äußern. Entweder er stürzt sich in die Themse, wo sie am
schmuzigsten ist. Aber davon kann man nicht leben. Nun wol, so wird er
ein Schüler Urquharts. Dadurch ist seine physische Hypochondrie physisch er¬
gänzt; von nun an hat er einen Parteistandpunkt; er gehört einer politischen
Fraction an, allerdings blos einer specifisch englischen und zwar einer winzig
kleinen. Dafür wird ihm eine Ehre zu Theil, die ihn stutzig machen sollte —
die Ehre, von allen reactionären Blättern Deutschlands nachgedruckt zu wer¬
den. Das geschieht allerdings zunächst wider seinen Willen. Aber es gibt
Menschen, die einen schmählichen Tod in der Oeffentlichkeit, selbst am Galgen,
einem glückseligen, ungekannten Leben in der Wüste vorziehn.

Wird jemand in die Schule Urquharts aufgenommen, so übernimmt er
die Verpflichtung: Lord Palmerston so oft, und weit öfter noch, als es sich
mit der Geduld seiner Leser verträgt, des Hochverrats zu bezüchtigen. Im
Uebrigen hat er ziemlich freie Hand.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103157"/>
          <p xml:id="ID_65" prev="#ID_64"> Spleen und Flüchtlingsverdruß zusammengesetzt. ES fehlt ihnen der Großvater¬<lb/>
stuhl der heimathlichen Stube, es fehlen die Eltern, Geschwister und Freunde,<lb/>
kein Mensch kennt sie, kein Mensch sucht sie; in den öffentlichen Localen ist<lb/>
keine Geselligkeit; bessere Kreise erschließen sich nur besseren Empfehlungen;<lb/>
das londoner Klima ist schändlich; englisches Bier macht das Blut schwer;<lb/>
daS Leben ist theuer; aus eine gewisse Berühmtheit, wie man sie, Dank<lb/>
einer mittelmäßigen Novelle, in der kleinen Hcimathsstadt vor Jahren errungen<lb/>
hatte, ist keine Aussicht; auf eine Aenderung der Verhältnisse auch keine &#x2014; &#x2014; man<lb/>
muß es daher natürlich finden, wenn der fremde Journalist mürrisch, hypochon¬<lb/>
drisch, gallig wird, wenn ihm das Leben hier ein Greuel, England trotz feines<lb/>
grünen Rasens und seiner persönlichen Freiheit eine Hölle auf Erden ist. Es<lb/>
flanirt sich nicht angenehm in einer Stadt, die ganz und gar dem Erwerb<lb/>
gewidmet ist, und kein Mensch ist so sehr Freiheitsschwärmer, daß er sich mit<lb/>
dem Gedanken an die Habeas Corpusacte über ein schlechtes Mittagsmahl<lb/>
oder einen langweiligen Tischnachbar trösten könnte. Ein Flüchtling, der den<lb/>
Händen der Polizei glücklich entronnen, in Dover landet, küßt begeistert die<lb/>
gastliche Scholle, wo der Mensch seine Meinung frei bekennen darf. Unbillig<lb/>
freilich wäre es, von demselben Flüchtling zu verlangen, er müsse sein Leben lang<lb/>
das Puppenspiel der Hochkirche, die Perücke des Lordkanzlers und die Füße der<lb/>
Engländerinnen schön finden, weil ihn die Polizei nicht ohne weiteres ins Loch<lb/>
sperren kann. Kein vernünftiger Mensch fordert Vergötterung einer Schöpfung,<lb/>
aber von vernünftigen Menschen hat man ein Recht zu fordern, daß sie ihre<lb/>
individuellen Mißstimmungen nach Möglichkeit bei Seite legen, wenn sie über<lb/>
ein Land und seine Institutionen Vortrüge halten. Das thun bekannte Kor¬<lb/>
respondenten aus England nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_66"> Der in London - lebende deutsche Journalist kann seine Verstimmung nur<lb/>
auf zwei Wegen äußern. Entweder er stürzt sich in die Themse, wo sie am<lb/>
schmuzigsten ist. Aber davon kann man nicht leben. Nun wol, so wird er<lb/>
ein Schüler Urquharts. Dadurch ist seine physische Hypochondrie physisch er¬<lb/>
gänzt; von nun an hat er einen Parteistandpunkt; er gehört einer politischen<lb/>
Fraction an, allerdings blos einer specifisch englischen und zwar einer winzig<lb/>
kleinen. Dafür wird ihm eine Ehre zu Theil, die ihn stutzig machen sollte &#x2014;<lb/>
die Ehre, von allen reactionären Blättern Deutschlands nachgedruckt zu wer¬<lb/>
den. Das geschieht allerdings zunächst wider seinen Willen. Aber es gibt<lb/>
Menschen, die einen schmählichen Tod in der Oeffentlichkeit, selbst am Galgen,<lb/>
einem glückseligen, ungekannten Leben in der Wüste vorziehn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_67"> Wird jemand in die Schule Urquharts aufgenommen, so übernimmt er<lb/>
die Verpflichtung: Lord Palmerston so oft, und weit öfter noch, als es sich<lb/>
mit der Geduld seiner Leser verträgt, des Hochverrats zu bezüchtigen. Im<lb/>
Uebrigen hat er ziemlich freie Hand.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0024] Spleen und Flüchtlingsverdruß zusammengesetzt. ES fehlt ihnen der Großvater¬ stuhl der heimathlichen Stube, es fehlen die Eltern, Geschwister und Freunde, kein Mensch kennt sie, kein Mensch sucht sie; in den öffentlichen Localen ist keine Geselligkeit; bessere Kreise erschließen sich nur besseren Empfehlungen; das londoner Klima ist schändlich; englisches Bier macht das Blut schwer; daS Leben ist theuer; aus eine gewisse Berühmtheit, wie man sie, Dank einer mittelmäßigen Novelle, in der kleinen Hcimathsstadt vor Jahren errungen hatte, ist keine Aussicht; auf eine Aenderung der Verhältnisse auch keine — — man muß es daher natürlich finden, wenn der fremde Journalist mürrisch, hypochon¬ drisch, gallig wird, wenn ihm das Leben hier ein Greuel, England trotz feines grünen Rasens und seiner persönlichen Freiheit eine Hölle auf Erden ist. Es flanirt sich nicht angenehm in einer Stadt, die ganz und gar dem Erwerb gewidmet ist, und kein Mensch ist so sehr Freiheitsschwärmer, daß er sich mit dem Gedanken an die Habeas Corpusacte über ein schlechtes Mittagsmahl oder einen langweiligen Tischnachbar trösten könnte. Ein Flüchtling, der den Händen der Polizei glücklich entronnen, in Dover landet, küßt begeistert die gastliche Scholle, wo der Mensch seine Meinung frei bekennen darf. Unbillig freilich wäre es, von demselben Flüchtling zu verlangen, er müsse sein Leben lang das Puppenspiel der Hochkirche, die Perücke des Lordkanzlers und die Füße der Engländerinnen schön finden, weil ihn die Polizei nicht ohne weiteres ins Loch sperren kann. Kein vernünftiger Mensch fordert Vergötterung einer Schöpfung, aber von vernünftigen Menschen hat man ein Recht zu fordern, daß sie ihre individuellen Mißstimmungen nach Möglichkeit bei Seite legen, wenn sie über ein Land und seine Institutionen Vortrüge halten. Das thun bekannte Kor¬ respondenten aus England nicht. Der in London - lebende deutsche Journalist kann seine Verstimmung nur auf zwei Wegen äußern. Entweder er stürzt sich in die Themse, wo sie am schmuzigsten ist. Aber davon kann man nicht leben. Nun wol, so wird er ein Schüler Urquharts. Dadurch ist seine physische Hypochondrie physisch er¬ gänzt; von nun an hat er einen Parteistandpunkt; er gehört einer politischen Fraction an, allerdings blos einer specifisch englischen und zwar einer winzig kleinen. Dafür wird ihm eine Ehre zu Theil, die ihn stutzig machen sollte — die Ehre, von allen reactionären Blättern Deutschlands nachgedruckt zu wer¬ den. Das geschieht allerdings zunächst wider seinen Willen. Aber es gibt Menschen, die einen schmählichen Tod in der Oeffentlichkeit, selbst am Galgen, einem glückseligen, ungekannten Leben in der Wüste vorziehn. Wird jemand in die Schule Urquharts aufgenommen, so übernimmt er die Verpflichtung: Lord Palmerston so oft, und weit öfter noch, als es sich mit der Geduld seiner Leser verträgt, des Hochverrats zu bezüchtigen. Im Uebrigen hat er ziemlich freie Hand.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/24
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/24>, abgerufen am 08.05.2024.