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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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Nächte lang über eine Maßregel gestritten wird, die am Ende doch nicht zur
Abstimmung gelangt, klagen die Gelehrten der Journalistik über unfrucht¬
bare Geschwätzigkeit; wird dagegen das Haus "aufgezählt", weil die Parteien
sich untereinander verständigt hatten über eine Maßregel, die sie für eine spä¬
tere Session vertagen oder gar nicht zur Sprache bringen wollen, keine un¬
fruchtbare Debatte zu halten, so klagen unsere Gelehrten wieder, daS Parla¬
ment thue seine Schuldigkeit nicht. Werden in Neapel ein Dutzend Ver¬
haftungen vorgenommen und die Times ist nicht augenblicklich mit einem
Donnerwetter bei der Hand, so rufen unsere Gelehrten: "Wie kömmts, daß das
Weltblatt schweigt?" -- Und spricht die englische Presse sich aus, dann rust
derselbe Gelehrte: "Was wollen, was können diese Blätter, die jetzt für Ita¬
lien schwadroniren? Können sie die Politik ihrer eignen Regierung bestimmen?"
Nun wahrlich, wennschon die englische Presse sich der freien Meinungsäußerung
enthalten soll, "weil sie keinen Einfluß auf die Regierung hat", wozu, fragen
wir bescheiden, bemühen sich denn diese Herren deutschen Korrespondenten täg¬
lich mit Tinte und Feder? Haben sie, oder die Blätter, für die sie schreiben,
etwa unumschränkte Gewalt über ihre respectiven Regierungen?

Genug an diesen Citaten, die wir um viele und sehr pikante vermehren
könnten; die gegebenen werden hinreichen, zu beweisen, in welche Widersprüche
der Geist, der stets verneint, gerathen kann. Nur ein kleines Thema wollen
wir hier noch flüchtig berühren -- das Thema der Prophezeihungen.

In London, wo'jährlich ein paar tausend Leitartikel geschrieben, gedruckt
und vergessen werden, wird begreiflicherweise gar viel gewahrsagt und gelogen.
Wer den Beruf in sich fühlt, auch nur über die 1200 jährlichen Leitartikel der
Times allein Buch zu führen, der wird -- es kann ihm nicht fehlen -- am
nächsten Sylvesterabend seiner Geliebten einen allerliebsten Strauß voll der
abenteuerlichsten Timesgewächse vors Fenster stellen können. Schade nur, daß
dieser Zweig der Botanik schon ziemlich abgeweidet ist. Man kennt in Deutsch¬
land die Vorzüge und Fehler der Times nicht erst seit gestern. Die deutschen
Berichterstatter, denen dieser Aufsatz gewidmet ist, können in dieser Sphäre
kaum Neues erzählen. Ihre Aufzeichnungen können trotzdem schützenswerth
sein, denn es ist amüsant, zuweilen zu hören, wie Times oder ein anderes
Blatt seine Ansichten oder Prophezeihungen vom October im November Lügen
strafen muß. Ein guter Witz ist dann am rechten Orte. Aber daS Eine sollte
dabei nie außer Acht gelassen werden, daß allzuschonungslose Kritik ihrerseits
zur Kritik herausfordert, und daß, wer über fremdes Prophetenthum die Nase
rümpft, selbst die Wahrsagerei als Kunst behutsam an den Nagel hängen sollte.
Der tiefsinnigste Calcül der Geschichte schützt vor Thorheit nicht, wie folgen¬
des Beispiel zeigen mag.

Als der Streit mit Nußland begann, wurde von Lo.ndon nach Deutsch-


Nächte lang über eine Maßregel gestritten wird, die am Ende doch nicht zur
Abstimmung gelangt, klagen die Gelehrten der Journalistik über unfrucht¬
bare Geschwätzigkeit; wird dagegen das Haus „aufgezählt", weil die Parteien
sich untereinander verständigt hatten über eine Maßregel, die sie für eine spä¬
tere Session vertagen oder gar nicht zur Sprache bringen wollen, keine un¬
fruchtbare Debatte zu halten, so klagen unsere Gelehrten wieder, daS Parla¬
ment thue seine Schuldigkeit nicht. Werden in Neapel ein Dutzend Ver¬
haftungen vorgenommen und die Times ist nicht augenblicklich mit einem
Donnerwetter bei der Hand, so rufen unsere Gelehrten: „Wie kömmts, daß das
Weltblatt schweigt?" — Und spricht die englische Presse sich aus, dann rust
derselbe Gelehrte: „Was wollen, was können diese Blätter, die jetzt für Ita¬
lien schwadroniren? Können sie die Politik ihrer eignen Regierung bestimmen?"
Nun wahrlich, wennschon die englische Presse sich der freien Meinungsäußerung
enthalten soll, „weil sie keinen Einfluß auf die Regierung hat", wozu, fragen
wir bescheiden, bemühen sich denn diese Herren deutschen Korrespondenten täg¬
lich mit Tinte und Feder? Haben sie, oder die Blätter, für die sie schreiben,
etwa unumschränkte Gewalt über ihre respectiven Regierungen?

Genug an diesen Citaten, die wir um viele und sehr pikante vermehren
könnten; die gegebenen werden hinreichen, zu beweisen, in welche Widersprüche
der Geist, der stets verneint, gerathen kann. Nur ein kleines Thema wollen
wir hier noch flüchtig berühren — das Thema der Prophezeihungen.

In London, wo'jährlich ein paar tausend Leitartikel geschrieben, gedruckt
und vergessen werden, wird begreiflicherweise gar viel gewahrsagt und gelogen.
Wer den Beruf in sich fühlt, auch nur über die 1200 jährlichen Leitartikel der
Times allein Buch zu führen, der wird — es kann ihm nicht fehlen — am
nächsten Sylvesterabend seiner Geliebten einen allerliebsten Strauß voll der
abenteuerlichsten Timesgewächse vors Fenster stellen können. Schade nur, daß
dieser Zweig der Botanik schon ziemlich abgeweidet ist. Man kennt in Deutsch¬
land die Vorzüge und Fehler der Times nicht erst seit gestern. Die deutschen
Berichterstatter, denen dieser Aufsatz gewidmet ist, können in dieser Sphäre
kaum Neues erzählen. Ihre Aufzeichnungen können trotzdem schützenswerth
sein, denn es ist amüsant, zuweilen zu hören, wie Times oder ein anderes
Blatt seine Ansichten oder Prophezeihungen vom October im November Lügen
strafen muß. Ein guter Witz ist dann am rechten Orte. Aber daS Eine sollte
dabei nie außer Acht gelassen werden, daß allzuschonungslose Kritik ihrerseits
zur Kritik herausfordert, und daß, wer über fremdes Prophetenthum die Nase
rümpft, selbst die Wahrsagerei als Kunst behutsam an den Nagel hängen sollte.
Der tiefsinnigste Calcül der Geschichte schützt vor Thorheit nicht, wie folgen¬
des Beispiel zeigen mag.

Als der Streit mit Nußland begann, wurde von Lo.ndon nach Deutsch-


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[0032] Nächte lang über eine Maßregel gestritten wird, die am Ende doch nicht zur Abstimmung gelangt, klagen die Gelehrten der Journalistik über unfrucht¬ bare Geschwätzigkeit; wird dagegen das Haus „aufgezählt", weil die Parteien sich untereinander verständigt hatten über eine Maßregel, die sie für eine spä¬ tere Session vertagen oder gar nicht zur Sprache bringen wollen, keine un¬ fruchtbare Debatte zu halten, so klagen unsere Gelehrten wieder, daS Parla¬ ment thue seine Schuldigkeit nicht. Werden in Neapel ein Dutzend Ver¬ haftungen vorgenommen und die Times ist nicht augenblicklich mit einem Donnerwetter bei der Hand, so rufen unsere Gelehrten: „Wie kömmts, daß das Weltblatt schweigt?" — Und spricht die englische Presse sich aus, dann rust derselbe Gelehrte: „Was wollen, was können diese Blätter, die jetzt für Ita¬ lien schwadroniren? Können sie die Politik ihrer eignen Regierung bestimmen?" Nun wahrlich, wennschon die englische Presse sich der freien Meinungsäußerung enthalten soll, „weil sie keinen Einfluß auf die Regierung hat", wozu, fragen wir bescheiden, bemühen sich denn diese Herren deutschen Korrespondenten täg¬ lich mit Tinte und Feder? Haben sie, oder die Blätter, für die sie schreiben, etwa unumschränkte Gewalt über ihre respectiven Regierungen? Genug an diesen Citaten, die wir um viele und sehr pikante vermehren könnten; die gegebenen werden hinreichen, zu beweisen, in welche Widersprüche der Geist, der stets verneint, gerathen kann. Nur ein kleines Thema wollen wir hier noch flüchtig berühren — das Thema der Prophezeihungen. In London, wo'jährlich ein paar tausend Leitartikel geschrieben, gedruckt und vergessen werden, wird begreiflicherweise gar viel gewahrsagt und gelogen. Wer den Beruf in sich fühlt, auch nur über die 1200 jährlichen Leitartikel der Times allein Buch zu führen, der wird — es kann ihm nicht fehlen — am nächsten Sylvesterabend seiner Geliebten einen allerliebsten Strauß voll der abenteuerlichsten Timesgewächse vors Fenster stellen können. Schade nur, daß dieser Zweig der Botanik schon ziemlich abgeweidet ist. Man kennt in Deutsch¬ land die Vorzüge und Fehler der Times nicht erst seit gestern. Die deutschen Berichterstatter, denen dieser Aufsatz gewidmet ist, können in dieser Sphäre kaum Neues erzählen. Ihre Aufzeichnungen können trotzdem schützenswerth sein, denn es ist amüsant, zuweilen zu hören, wie Times oder ein anderes Blatt seine Ansichten oder Prophezeihungen vom October im November Lügen strafen muß. Ein guter Witz ist dann am rechten Orte. Aber daS Eine sollte dabei nie außer Acht gelassen werden, daß allzuschonungslose Kritik ihrerseits zur Kritik herausfordert, und daß, wer über fremdes Prophetenthum die Nase rümpft, selbst die Wahrsagerei als Kunst behutsam an den Nagel hängen sollte. Der tiefsinnigste Calcül der Geschichte schützt vor Thorheit nicht, wie folgen¬ des Beispiel zeigen mag. Als der Streit mit Nußland begann, wurde von Lo.ndon nach Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/32>, abgerufen am 08.05.2024.