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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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gegenüber industriellen Entwicklungen vergleichen. Wie der Bauer in Haus
und Hof noch manches so angreift, wie seine Urväter vor tausend und mehr
Jahren, so hat er auch die Worte festgehalten, die in den Schriften längst
verwischt sind. Ein alemannischer Bauer wird ein Stück aus Notker oft besser
verstehen, als aus Rückert oder Platen. Er spricht noch in althochdeutscher
Lauten, und hat, wenn auch hier und da zerbrochen und unverständig geflickt,
den. Wortvorrath jener Zeiten als einen Bestand seines Hauses erbweise über¬
kommen. Das sind die edelsten Antiquitäten. Müßte man sie wie Rococo-
geräth oder wie verrostete und oft gefälschte Rüstungen theuer bezahlen, so
würden sie viel Liebhaber finden. So sind sie nur eine Passion der armen
Gelehrten.

Aber noch ein anderer Reiz liegt in den Dialekten: es ist der Reiz, die
Seele der einzelnen Landschaften bis in die geheimsten Winkel zu beschleichen
und zu belauschen; das eigenste Wesen der deutschen Stämme im ursprünglichsten
Treiben zu beobachten; das Krankhafte darin bloß zu legen und das Gesunde,
und aus diesen starken Muskeln, diesen seinen und straffen Nerven, die un-
-verwüstliche Lebenskraft unsers tüchtigen Volkes mit schlagender Gewißheit sich
vor die Augen zu bringen. Da ist grüner erquickender Waldduft, und man
vergißt den Qualm des Lebens, des Tages und den Modergeruch, der aus
den Grüften heutiger Geschichte sich schwer über vieles, vieles hängt. --

Wer bis hierher gefolgt ist, wird vielleicht sagen, das mag prächtig, aber
für Laien nicht sichtbar sein, denn dazu gehöre eine gelehrt geschliffene Brille.
Und doch ist es für alle gesunde deutsche Augen unverborgen, die statt in
ausländische clemi-nouae in eignes unverdorbenes Wesen blicken mögen. Es
ist überdies durch Dichter erleichtert, welche meisterliche Präparate sür diese
Beobachtungen arbeiteten. Freilich ist ihre Zahl nicht groß, nur vier oder
fünf: Hebel im Alemannischen, v. Kobell im Bairischen, Stelzhammer im Oest¬
reichischen, v. Holtei im Schlesischen, Ki. Groth im Dietmarsischen. Sie haben
des Dialektdichters einzige, aber große Aufgabe gelöst: Laut, Natur und Geist
ihrer Landschaft wiederzugeben; Treue ist ihr Ziel und Treue ist Poesie.

Wie selten die Erkenntniß dieser Aufgabe und wie schwer ihre Lösung
ist, beweisen die Hunderte von Reimern in allen möglichen deutschen Mund¬
arten. Wir hoffen indessen, daß bei der gesteigerten Aufmerksamkeit für diesen
Gegenstand, die sich in gelehrten Arbeiten, in Sammlungen von Proben,
deren umfassendste Germaniens Völkerstimmen von Firmenich sind, ja
selbst in der Gründung der obengenannten Zeitschrift deutlich ausspricht, mehr
der echten Poeten für das einzelne deutsche StammeSthum auferstehen werden.
Das lebendigere Gefühl für alles Vaterländische, die wachsende Erkenntniß vom
Werthe unseröMannigfaltigen für die Lebenskraft des Ganzen, der geschichtliche
Sinn, der unter uns alljährlich größere Eroberungen macht, geben allen,


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gegenüber industriellen Entwicklungen vergleichen. Wie der Bauer in Haus
und Hof noch manches so angreift, wie seine Urväter vor tausend und mehr
Jahren, so hat er auch die Worte festgehalten, die in den Schriften längst
verwischt sind. Ein alemannischer Bauer wird ein Stück aus Notker oft besser
verstehen, als aus Rückert oder Platen. Er spricht noch in althochdeutscher
Lauten, und hat, wenn auch hier und da zerbrochen und unverständig geflickt,
den. Wortvorrath jener Zeiten als einen Bestand seines Hauses erbweise über¬
kommen. Das sind die edelsten Antiquitäten. Müßte man sie wie Rococo-
geräth oder wie verrostete und oft gefälschte Rüstungen theuer bezahlen, so
würden sie viel Liebhaber finden. So sind sie nur eine Passion der armen
Gelehrten.

Aber noch ein anderer Reiz liegt in den Dialekten: es ist der Reiz, die
Seele der einzelnen Landschaften bis in die geheimsten Winkel zu beschleichen
und zu belauschen; das eigenste Wesen der deutschen Stämme im ursprünglichsten
Treiben zu beobachten; das Krankhafte darin bloß zu legen und das Gesunde,
und aus diesen starken Muskeln, diesen seinen und straffen Nerven, die un-
-verwüstliche Lebenskraft unsers tüchtigen Volkes mit schlagender Gewißheit sich
vor die Augen zu bringen. Da ist grüner erquickender Waldduft, und man
vergißt den Qualm des Lebens, des Tages und den Modergeruch, der aus
den Grüften heutiger Geschichte sich schwer über vieles, vieles hängt. —

Wer bis hierher gefolgt ist, wird vielleicht sagen, das mag prächtig, aber
für Laien nicht sichtbar sein, denn dazu gehöre eine gelehrt geschliffene Brille.
Und doch ist es für alle gesunde deutsche Augen unverborgen, die statt in
ausländische clemi-nouae in eignes unverdorbenes Wesen blicken mögen. Es
ist überdies durch Dichter erleichtert, welche meisterliche Präparate sür diese
Beobachtungen arbeiteten. Freilich ist ihre Zahl nicht groß, nur vier oder
fünf: Hebel im Alemannischen, v. Kobell im Bairischen, Stelzhammer im Oest¬
reichischen, v. Holtei im Schlesischen, Ki. Groth im Dietmarsischen. Sie haben
des Dialektdichters einzige, aber große Aufgabe gelöst: Laut, Natur und Geist
ihrer Landschaft wiederzugeben; Treue ist ihr Ziel und Treue ist Poesie.

Wie selten die Erkenntniß dieser Aufgabe und wie schwer ihre Lösung
ist, beweisen die Hunderte von Reimern in allen möglichen deutschen Mund¬
arten. Wir hoffen indessen, daß bei der gesteigerten Aufmerksamkeit für diesen
Gegenstand, die sich in gelehrten Arbeiten, in Sammlungen von Proben,
deren umfassendste Germaniens Völkerstimmen von Firmenich sind, ja
selbst in der Gründung der obengenannten Zeitschrift deutlich ausspricht, mehr
der echten Poeten für das einzelne deutsche StammeSthum auferstehen werden.
Das lebendigere Gefühl für alles Vaterländische, die wachsende Erkenntniß vom
Werthe unseröMannigfaltigen für die Lebenskraft des Ganzen, der geschichtliche
Sinn, der unter uns alljährlich größere Eroberungen macht, geben allen,


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[0339] gegenüber industriellen Entwicklungen vergleichen. Wie der Bauer in Haus und Hof noch manches so angreift, wie seine Urväter vor tausend und mehr Jahren, so hat er auch die Worte festgehalten, die in den Schriften längst verwischt sind. Ein alemannischer Bauer wird ein Stück aus Notker oft besser verstehen, als aus Rückert oder Platen. Er spricht noch in althochdeutscher Lauten, und hat, wenn auch hier und da zerbrochen und unverständig geflickt, den. Wortvorrath jener Zeiten als einen Bestand seines Hauses erbweise über¬ kommen. Das sind die edelsten Antiquitäten. Müßte man sie wie Rococo- geräth oder wie verrostete und oft gefälschte Rüstungen theuer bezahlen, so würden sie viel Liebhaber finden. So sind sie nur eine Passion der armen Gelehrten. Aber noch ein anderer Reiz liegt in den Dialekten: es ist der Reiz, die Seele der einzelnen Landschaften bis in die geheimsten Winkel zu beschleichen und zu belauschen; das eigenste Wesen der deutschen Stämme im ursprünglichsten Treiben zu beobachten; das Krankhafte darin bloß zu legen und das Gesunde, und aus diesen starken Muskeln, diesen seinen und straffen Nerven, die un- -verwüstliche Lebenskraft unsers tüchtigen Volkes mit schlagender Gewißheit sich vor die Augen zu bringen. Da ist grüner erquickender Waldduft, und man vergißt den Qualm des Lebens, des Tages und den Modergeruch, der aus den Grüften heutiger Geschichte sich schwer über vieles, vieles hängt. — Wer bis hierher gefolgt ist, wird vielleicht sagen, das mag prächtig, aber für Laien nicht sichtbar sein, denn dazu gehöre eine gelehrt geschliffene Brille. Und doch ist es für alle gesunde deutsche Augen unverborgen, die statt in ausländische clemi-nouae in eignes unverdorbenes Wesen blicken mögen. Es ist überdies durch Dichter erleichtert, welche meisterliche Präparate sür diese Beobachtungen arbeiteten. Freilich ist ihre Zahl nicht groß, nur vier oder fünf: Hebel im Alemannischen, v. Kobell im Bairischen, Stelzhammer im Oest¬ reichischen, v. Holtei im Schlesischen, Ki. Groth im Dietmarsischen. Sie haben des Dialektdichters einzige, aber große Aufgabe gelöst: Laut, Natur und Geist ihrer Landschaft wiederzugeben; Treue ist ihr Ziel und Treue ist Poesie. Wie selten die Erkenntniß dieser Aufgabe und wie schwer ihre Lösung ist, beweisen die Hunderte von Reimern in allen möglichen deutschen Mund¬ arten. Wir hoffen indessen, daß bei der gesteigerten Aufmerksamkeit für diesen Gegenstand, die sich in gelehrten Arbeiten, in Sammlungen von Proben, deren umfassendste Germaniens Völkerstimmen von Firmenich sind, ja selbst in der Gründung der obengenannten Zeitschrift deutlich ausspricht, mehr der echten Poeten für das einzelne deutsche StammeSthum auferstehen werden. Das lebendigere Gefühl für alles Vaterländische, die wachsende Erkenntniß vom Werthe unseröMannigfaltigen für die Lebenskraft des Ganzen, der geschichtliche Sinn, der unter uns alljährlich größere Eroberungen macht, geben allen, 42*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/339>, abgerufen am 09.05.2024.