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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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Kaum konnte jemand an diesem Hofe leben, ohne den Musen wenigstens
einigermaßen zu huldigen. Der stärkste Beweis für die unwiderstehliche Wir¬
kung dieser poetischen Atmosphäre ist, daß selbst der furchtbare Tiber sich her¬
beiließ Verse zu machen. Als Lucius Cäsar, einer der beiden Prinzen, die
zwischen ihm und dem Thron standen, im ersten Jahr n> Ch. plötzlich starb
(wie man in Rom flüsterte, an Gift), dichtete Tiber, damals schon ein Mann
von dreiundvierzig Jahren, eine Ode, betitelt "Klage über Lucius Cäsars Tod".
ES ist seltsam, sich diesen finstern, über weitumfassenden Plänen brütenden,
vor keiner Unthat zurückschaudernden Mann vorzustellen, wie er Sylben mißt,
am Ausdruck felle und nach mythologischen Anspielungen sucht; er liebte ge¬
lehrte und künstliche Poesien und ahmte dergleichen in seinen eignen griechi¬
schen Gedichten nach. Auch der edle Germanicus sand in seinem vielbewegten
Leben Muße zur Poesie, er hinterließ unter andern griechische Lustspiele, wie
denn überhaupt die Gebildeten jener Zeit ebenso gern und leicht griechisch als
lateinisch sprachen und schrieben. Die Wirkungen dieser hohen Beispiele kann
man sich kaum groß genug vorstellen. Der Hof und die.ihm zunächst stehen¬
den Kreise bestimmten durch ihren Vorgang nicht nur die Umgangsformen,
sondern auch die Äußerliche sittliche Haltung und die geistige Richtung der Ge¬
sellschaft in Rom. Machten der Kaiser, die Mitglieder der kaiserlichen Familie,
die höchstgestellten und einflußreichsten Großen Verse, so war es für jeden
Mann von gutem Ton unerläßlich, ebenfalls Verse zu machen. An den Höfen
der drei Cäsaren, die aus August folgten, blühte die Poesie nicht so kräftig.
Ohne literarische Bildung und Interesse war keiner, selbst Caligula nicht, der
als vortrefflicher Redner gerechnet wird; Claudius verfaßte zahlreiche volumi¬
nöse Werke in griechischer und lateinischer Prosa, sämmtlich sehr gelehrt, nur
wie alles, was dieser Jakob der erste unter den römischen Kaisern that, mit
einem starken Beigeschmack pedantischer Absurdität. Aber abgesehen davon, daß
die Literatur in den Hofkreisen auch jetzt noch geschätzt und gepflegt wurde (wir
finden z. B. einen der Freigelassenen, die in Claudius Namen regierten, lite¬
rarisch beschäftigt), so wirkten auch die Errungenschaften uno Traditionen der
augusteischen Zeit zu nachhaltig, als daß sie nicht die gebildete Gesellschaft
während eines Menschenalters bei ihren poetischen Gewohnheiten hätten fest¬
halten sollen; denn Tiber, Caligula und Claudius regierten zusammen nur
vierzig Jahre. Vor allem muß man in Anschlag bringen, daß die Virtuosität
der Rede fort und fort in ihrer alten Achtung blieb und mit dem alten ge¬
schäftigen Eifer erstrebt wurde, daß folglich auch ohne Zweifel die poetischen
Vorübungen zur Meisterschaft in der Prosa in derselben Allgemeinheit wie
früher fortdauerten.

Einen neuen Aufschwung nahm der poetische Dilettantismus unter Neros
Regierung. Der siebzehnjährige Monarch war der erste Kaiser, der die Poesie


Kaum konnte jemand an diesem Hofe leben, ohne den Musen wenigstens
einigermaßen zu huldigen. Der stärkste Beweis für die unwiderstehliche Wir¬
kung dieser poetischen Atmosphäre ist, daß selbst der furchtbare Tiber sich her¬
beiließ Verse zu machen. Als Lucius Cäsar, einer der beiden Prinzen, die
zwischen ihm und dem Thron standen, im ersten Jahr n> Ch. plötzlich starb
(wie man in Rom flüsterte, an Gift), dichtete Tiber, damals schon ein Mann
von dreiundvierzig Jahren, eine Ode, betitelt „Klage über Lucius Cäsars Tod".
ES ist seltsam, sich diesen finstern, über weitumfassenden Plänen brütenden,
vor keiner Unthat zurückschaudernden Mann vorzustellen, wie er Sylben mißt,
am Ausdruck felle und nach mythologischen Anspielungen sucht; er liebte ge¬
lehrte und künstliche Poesien und ahmte dergleichen in seinen eignen griechi¬
schen Gedichten nach. Auch der edle Germanicus sand in seinem vielbewegten
Leben Muße zur Poesie, er hinterließ unter andern griechische Lustspiele, wie
denn überhaupt die Gebildeten jener Zeit ebenso gern und leicht griechisch als
lateinisch sprachen und schrieben. Die Wirkungen dieser hohen Beispiele kann
man sich kaum groß genug vorstellen. Der Hof und die.ihm zunächst stehen¬
den Kreise bestimmten durch ihren Vorgang nicht nur die Umgangsformen,
sondern auch die Äußerliche sittliche Haltung und die geistige Richtung der Ge¬
sellschaft in Rom. Machten der Kaiser, die Mitglieder der kaiserlichen Familie,
die höchstgestellten und einflußreichsten Großen Verse, so war es für jeden
Mann von gutem Ton unerläßlich, ebenfalls Verse zu machen. An den Höfen
der drei Cäsaren, die aus August folgten, blühte die Poesie nicht so kräftig.
Ohne literarische Bildung und Interesse war keiner, selbst Caligula nicht, der
als vortrefflicher Redner gerechnet wird; Claudius verfaßte zahlreiche volumi¬
nöse Werke in griechischer und lateinischer Prosa, sämmtlich sehr gelehrt, nur
wie alles, was dieser Jakob der erste unter den römischen Kaisern that, mit
einem starken Beigeschmack pedantischer Absurdität. Aber abgesehen davon, daß
die Literatur in den Hofkreisen auch jetzt noch geschätzt und gepflegt wurde (wir
finden z. B. einen der Freigelassenen, die in Claudius Namen regierten, lite¬
rarisch beschäftigt), so wirkten auch die Errungenschaften uno Traditionen der
augusteischen Zeit zu nachhaltig, als daß sie nicht die gebildete Gesellschaft
während eines Menschenalters bei ihren poetischen Gewohnheiten hätten fest¬
halten sollen; denn Tiber, Caligula und Claudius regierten zusammen nur
vierzig Jahre. Vor allem muß man in Anschlag bringen, daß die Virtuosität
der Rede fort und fort in ihrer alten Achtung blieb und mit dem alten ge¬
schäftigen Eifer erstrebt wurde, daß folglich auch ohne Zweifel die poetischen
Vorübungen zur Meisterschaft in der Prosa in derselben Allgemeinheit wie
früher fortdauerten.

Einen neuen Aufschwung nahm der poetische Dilettantismus unter Neros
Regierung. Der siebzehnjährige Monarch war der erste Kaiser, der die Poesie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/16>, abgerufen am 21.05.2024.