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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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lehrend, den eigenen Sprachschatz mit dem deS deutschen Wörterbuchs zu ver¬
gleichen. Denn sehr lebhaft wird die Erkenntniß, um wie viel größer die
Sprache einer Nation sei, als die Sprache des Einzelnen und wie aus dem,
gewissermaßen unendlichen und unbegrenzten, Gebiete des Sprachlebcns, auch
der reichste Verwalter seiner Sprache durchaus nicht den ganzen Umfang zu
ersehen und in seiner Seele productiv zu beherbergen fähig ist. Es war beim
Beginn des Wörterbuchs wol die Absicht, auf das stille Leben der deutschen
Dialekte nur die nothwendigste Rücksicht zu nehmen. Indeß ergab sich bald,
daß ihr Leben und Schaffen aufs innigste mit dem unserer Schriftsprache
verbunden ist, und daß wenigstens die in den Dialekten erhaltenen Stamm¬
wörter, ebenso aber viele Nuancen ihrer Bedeutung aufgenommen werden
mußten. Grade bei der reichen Fülle von Wörtern, welche das Wörterbuch
gibt, und welche nie von irgend einem Lerikon auch nur annähernd erreicht
ist, wird eS geziemen, an die Unermeßlichkeit unsres Sprachschatzes zu denken.
Es wird nie möglich sein, alle Strahlen von der großen Sonne deö deutschen
Lebens aufzufangen und jede Vorstellung des Menschen, welche sich irgend
einmal in einer Wortbildung realisirt hat zu firiren. Daß dies für ver¬
gangene Zeiten nicht thunlich ist, wird man leicht verstehn, denn wie
viel man auch im 16. und 17. Jahrhundert schrieb, es ist offenbar in
der Schriftsprache jener Zeit zwar der vornehmste und wichtigste, aber
bei weitem nicht der größte Theil ihres sprachlichen Gehaltes auf uns ge¬
kommen. Schwerer vielleicht wird man die Ueberzeugung gewinnen, daß
auch der Sprachstvff der Gegenwart unendlich viel größer ist als die
Sprache, welche durch unsere Bücher legitimirt wird. Am meisten bemerkt
dies, wer viel mit dem Volke verkehrt. Er findet nicht nur in jedem der
Zahlreichen deutschen Volksdialekte eine unerschöpfliche Quelle für Sprach¬
forschung, merkwürdige Stämme, charakteristische Nüancen der Wortbedeutung,
Neue Zusammensetzungen und Ableitungen, er erkennt nicht nur in der Sprache
i^des Handwerks und aller praktischen Thätigkeit eine ungezählte Menge origi¬
neller Ausdrücke und eigenthümlicher Bedeutungen von sonst bekannten Wör-
^n, sondern waS ihn vielleicht am meisten anzieht, er wird in dem Volke
falbst mit Erstaunen einen sehr eigenthümlichen Sprachsinn entdecken und eine
Naive und starke Kraft, neue Wörter zu bilden und die Bedeutungen der vor¬
handenen zu nüanciren, Eigenschaften, welche dem Schriftgelehrten selbst häufig
">ehe zu Gebote stehn. Für Kenntniß der Dialekte ist Vieles geschehn, noch
N'ehr bleibt zu thun übrig, und Schmellers bairisches Wörterbuch wird
noch lange ein uncrcichteö Vorbild für den Forscher anderer Dialekte
bleiben, denen zum Theil noch jede wissenschaftliche Bearbeitung fehlt. Auch
für die Berufs- und Handwerkersprache gibt eS einige Sammlungen; so ist
i' B. die Sprache der Jäger, Schiffer, Bergleute großeiuheilö niedergeschrieben,


lehrend, den eigenen Sprachschatz mit dem deS deutschen Wörterbuchs zu ver¬
gleichen. Denn sehr lebhaft wird die Erkenntniß, um wie viel größer die
Sprache einer Nation sei, als die Sprache des Einzelnen und wie aus dem,
gewissermaßen unendlichen und unbegrenzten, Gebiete des Sprachlebcns, auch
der reichste Verwalter seiner Sprache durchaus nicht den ganzen Umfang zu
ersehen und in seiner Seele productiv zu beherbergen fähig ist. Es war beim
Beginn des Wörterbuchs wol die Absicht, auf das stille Leben der deutschen
Dialekte nur die nothwendigste Rücksicht zu nehmen. Indeß ergab sich bald,
daß ihr Leben und Schaffen aufs innigste mit dem unserer Schriftsprache
verbunden ist, und daß wenigstens die in den Dialekten erhaltenen Stamm¬
wörter, ebenso aber viele Nuancen ihrer Bedeutung aufgenommen werden
mußten. Grade bei der reichen Fülle von Wörtern, welche das Wörterbuch
gibt, und welche nie von irgend einem Lerikon auch nur annähernd erreicht
ist, wird eS geziemen, an die Unermeßlichkeit unsres Sprachschatzes zu denken.
Es wird nie möglich sein, alle Strahlen von der großen Sonne deö deutschen
Lebens aufzufangen und jede Vorstellung des Menschen, welche sich irgend
einmal in einer Wortbildung realisirt hat zu firiren. Daß dies für ver¬
gangene Zeiten nicht thunlich ist, wird man leicht verstehn, denn wie
viel man auch im 16. und 17. Jahrhundert schrieb, es ist offenbar in
der Schriftsprache jener Zeit zwar der vornehmste und wichtigste, aber
bei weitem nicht der größte Theil ihres sprachlichen Gehaltes auf uns ge¬
kommen. Schwerer vielleicht wird man die Ueberzeugung gewinnen, daß
auch der Sprachstvff der Gegenwart unendlich viel größer ist als die
Sprache, welche durch unsere Bücher legitimirt wird. Am meisten bemerkt
dies, wer viel mit dem Volke verkehrt. Er findet nicht nur in jedem der
Zahlreichen deutschen Volksdialekte eine unerschöpfliche Quelle für Sprach¬
forschung, merkwürdige Stämme, charakteristische Nüancen der Wortbedeutung,
Neue Zusammensetzungen und Ableitungen, er erkennt nicht nur in der Sprache
i^des Handwerks und aller praktischen Thätigkeit eine ungezählte Menge origi¬
neller Ausdrücke und eigenthümlicher Bedeutungen von sonst bekannten Wör-
^n, sondern waS ihn vielleicht am meisten anzieht, er wird in dem Volke
falbst mit Erstaunen einen sehr eigenthümlichen Sprachsinn entdecken und eine
Naive und starke Kraft, neue Wörter zu bilden und die Bedeutungen der vor¬
handenen zu nüanciren, Eigenschaften, welche dem Schriftgelehrten selbst häufig
">ehe zu Gebote stehn. Für Kenntniß der Dialekte ist Vieles geschehn, noch
N'ehr bleibt zu thun übrig, und Schmellers bairisches Wörterbuch wird
noch lange ein uncrcichteö Vorbild für den Forscher anderer Dialekte
bleiben, denen zum Theil noch jede wissenschaftliche Bearbeitung fehlt. Auch
für die Berufs- und Handwerkersprache gibt eS einige Sammlungen; so ist
i' B. die Sprache der Jäger, Schiffer, Bergleute großeiuheilö niedergeschrieben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/247>, abgerufen am 21.05.2024.