Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ein gemischtes Publicum, wenn man die vorhandenen poetischen Kräfte in An¬
schlag bringt, verständig. Ein weiteres Eingehn wird nicht erforderlich sein.

Es ist begreiflich, daß mau bei dem Mangel an neuen Productionen
mit besonderer Vorliebe zum Allen zurückgreift. F. Rückerts Lehrgedicht,
die Weisheit pes Br ahn alten, ist in vierter Auflage (Leipzig, Hirzel)
in sehr geschmackvoller Ausstattung erscdienen. Es erinnert an eine Periode
unserer Literatur, die man bereits als eine vergangene betrachten kann, die
aber nachhaltige'Wirkungen ausgeübt hat. Unter den Dichtern, die sich zum
Orient zurückwandten, um aus der Blütenpracht dieser wunderbaren Welt
auch für daS deutsche Gemüth neue Schätze zu erbeuten und den Cultus der
Sinnlichkeit poetisch zu verklären, ist Rückert der farbenreichste, und man mag
es als ein Ueberquelle" angeborener Naturkraft bezeichnen, wenn 'bei ihm
nicht selten die Farbe die Gestalt uno den Gedanken überwuchert. -- Karl
Si in rock, der schon manche schöne Gabe des Mittelalters für den modernen
Geschmack zurecht gemacht hat, gibt in der deutschen Sivnsharfe (Elber-
feld, FriderichS) eine sehr interessante Sammlung altkarhvlischer Kirchenlieder
und anderer Dichtungen von ähnlichem Inhalt, in der wir nicht allein die
echt poetische Stimmung deS Originals, sondern auch die unvergleichliche Ge-
schicklichkeit deS Uebersetzers bewundern, der mit gewissenhafter Treue gegen
den ursprünglichen Text den reinsten Geschmack verbindet. -- Nicolaus
Hocker, der in einer früheren Sammlung die poetischen Bearbeitungen der
deutschen Sage in einer Art von Continuität vereinigt hat, hat dies Mal alles
aufgespeichert was ältere und neuere Dichter aus der deutschen Geschichte ge¬
macht haben. Man freut sich doch über die Mannigfaltigkeit unserer nationalen
Bildung, wenn auch der Werth dieser Bearbeitungen sehr ungleich ist. Der
Titel der Sammlung: Vom deutschen Geiste, eine Culturgeschichte
in Liedern und Sagen deutscher Dichter (Köln, Grapen) ist nicht sehr
geschickt. ^

An diese Sammlungen schließen sich die Reliquien der deutschen Dichter,
namentlich Goethe und Schiller, deren Werke zu immer größerer Vollständig¬
keit heranwachsen. Der interessanteste von diesen Beiträgen ist die von
or. Diezmann in Leipzig herausgegebene Schillersche Bearbeitung Ves
Egmont. Zwar hat Goethe darüber in seinen Annalen berichtet, aber w
seinen Angaben war doch manches unvollständig. Man kann sich jetzt davon
überzeugen, daß Schiller bei seinen gewaltsamen Reformen wenigstens durch
ein Princip bestimmt wurde. Er verlangte nämlich von jeder Scene dramati>che
Continuität, dialektischen Gang und motivirte Verknüpfung mit dem Vorher¬
gehenden und nachgehenden. Diejenigen Scenen, die ein bloßes Bild aus¬
drücken und ohne eigentliche Folge verlaufen, hat er entweder weggelassen, oder
mit andern zusammengebracht, so daß der Gang der Handlung vorwärtsruck.


ein gemischtes Publicum, wenn man die vorhandenen poetischen Kräfte in An¬
schlag bringt, verständig. Ein weiteres Eingehn wird nicht erforderlich sein.

Es ist begreiflich, daß mau bei dem Mangel an neuen Productionen
mit besonderer Vorliebe zum Allen zurückgreift. F. Rückerts Lehrgedicht,
die Weisheit pes Br ahn alten, ist in vierter Auflage (Leipzig, Hirzel)
in sehr geschmackvoller Ausstattung erscdienen. Es erinnert an eine Periode
unserer Literatur, die man bereits als eine vergangene betrachten kann, die
aber nachhaltige'Wirkungen ausgeübt hat. Unter den Dichtern, die sich zum
Orient zurückwandten, um aus der Blütenpracht dieser wunderbaren Welt
auch für daS deutsche Gemüth neue Schätze zu erbeuten und den Cultus der
Sinnlichkeit poetisch zu verklären, ist Rückert der farbenreichste, und man mag
es als ein Ueberquelle» angeborener Naturkraft bezeichnen, wenn 'bei ihm
nicht selten die Farbe die Gestalt uno den Gedanken überwuchert. — Karl
Si in rock, der schon manche schöne Gabe des Mittelalters für den modernen
Geschmack zurecht gemacht hat, gibt in der deutschen Sivnsharfe (Elber-
feld, FriderichS) eine sehr interessante Sammlung altkarhvlischer Kirchenlieder
und anderer Dichtungen von ähnlichem Inhalt, in der wir nicht allein die
echt poetische Stimmung deS Originals, sondern auch die unvergleichliche Ge-
schicklichkeit deS Uebersetzers bewundern, der mit gewissenhafter Treue gegen
den ursprünglichen Text den reinsten Geschmack verbindet. — Nicolaus
Hocker, der in einer früheren Sammlung die poetischen Bearbeitungen der
deutschen Sage in einer Art von Continuität vereinigt hat, hat dies Mal alles
aufgespeichert was ältere und neuere Dichter aus der deutschen Geschichte ge¬
macht haben. Man freut sich doch über die Mannigfaltigkeit unserer nationalen
Bildung, wenn auch der Werth dieser Bearbeitungen sehr ungleich ist. Der
Titel der Sammlung: Vom deutschen Geiste, eine Culturgeschichte
in Liedern und Sagen deutscher Dichter (Köln, Grapen) ist nicht sehr
geschickt. ^

An diese Sammlungen schließen sich die Reliquien der deutschen Dichter,
namentlich Goethe und Schiller, deren Werke zu immer größerer Vollständig¬
keit heranwachsen. Der interessanteste von diesen Beiträgen ist die von
or. Diezmann in Leipzig herausgegebene Schillersche Bearbeitung Ves
Egmont. Zwar hat Goethe darüber in seinen Annalen berichtet, aber w
seinen Angaben war doch manches unvollständig. Man kann sich jetzt davon
überzeugen, daß Schiller bei seinen gewaltsamen Reformen wenigstens durch
ein Princip bestimmt wurde. Er verlangte nämlich von jeder Scene dramati>che
Continuität, dialektischen Gang und motivirte Verknüpfung mit dem Vorher¬
gehenden und nachgehenden. Diejenigen Scenen, die ein bloßes Bild aus¬
drücken und ohne eigentliche Folge verlaufen, hat er entweder weggelassen, oder
mit andern zusammengebracht, so daß der Gang der Handlung vorwärtsruck.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0352" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105087"/>
            <p xml:id="ID_984" prev="#ID_983"> ein gemischtes Publicum, wenn man die vorhandenen poetischen Kräfte in An¬<lb/>
schlag bringt, verständig.  Ein weiteres Eingehn wird nicht erforderlich sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_985"> Es ist begreiflich, daß mau bei dem Mangel an neuen Productionen<lb/>
mit besonderer Vorliebe zum Allen zurückgreift. F. Rückerts Lehrgedicht,<lb/>
die Weisheit pes Br ahn alten, ist in vierter Auflage (Leipzig, Hirzel)<lb/>
in sehr geschmackvoller Ausstattung erscdienen. Es erinnert an eine Periode<lb/>
unserer Literatur, die man bereits als eine vergangene betrachten kann, die<lb/>
aber nachhaltige'Wirkungen ausgeübt hat. Unter den Dichtern, die sich zum<lb/>
Orient zurückwandten, um aus der Blütenpracht dieser wunderbaren Welt<lb/>
auch für daS deutsche Gemüth neue Schätze zu erbeuten und den Cultus der<lb/>
Sinnlichkeit poetisch zu verklären, ist Rückert der farbenreichste, und man mag<lb/>
es als ein Ueberquelle» angeborener Naturkraft bezeichnen, wenn 'bei ihm<lb/>
nicht selten die Farbe die Gestalt uno den Gedanken überwuchert. &#x2014; Karl<lb/>
Si in rock, der schon manche schöne Gabe des Mittelalters für den modernen<lb/>
Geschmack zurecht gemacht hat, gibt in der deutschen Sivnsharfe (Elber-<lb/>
feld, FriderichS) eine sehr interessante Sammlung altkarhvlischer Kirchenlieder<lb/>
und anderer Dichtungen von ähnlichem Inhalt, in der wir nicht allein die<lb/>
echt poetische Stimmung deS Originals, sondern auch die unvergleichliche Ge-<lb/>
schicklichkeit deS Uebersetzers bewundern, der mit gewissenhafter Treue gegen<lb/>
den ursprünglichen Text den reinsten Geschmack verbindet. &#x2014; Nicolaus<lb/>
Hocker, der in einer früheren Sammlung die poetischen Bearbeitungen der<lb/>
deutschen Sage in einer Art von Continuität vereinigt hat, hat dies Mal alles<lb/>
aufgespeichert was ältere und neuere Dichter aus der deutschen Geschichte ge¬<lb/>
macht haben. Man freut sich doch über die Mannigfaltigkeit unserer nationalen<lb/>
Bildung, wenn auch der Werth dieser Bearbeitungen sehr ungleich ist. Der<lb/>
Titel der Sammlung: Vom deutschen Geiste, eine Culturgeschichte<lb/>
in Liedern und Sagen deutscher Dichter (Köln, Grapen) ist nicht sehr<lb/>
geschickt. ^</p><lb/>
            <p xml:id="ID_986" next="#ID_987"> An diese Sammlungen schließen sich die Reliquien der deutschen Dichter,<lb/>
namentlich Goethe und Schiller, deren Werke zu immer größerer Vollständig¬<lb/>
keit heranwachsen. Der interessanteste von diesen Beiträgen ist die von<lb/>
or. Diezmann in Leipzig herausgegebene Schillersche Bearbeitung Ves<lb/>
Egmont. Zwar hat Goethe darüber in seinen Annalen berichtet, aber w<lb/>
seinen Angaben war doch manches unvollständig. Man kann sich jetzt davon<lb/>
überzeugen, daß Schiller bei seinen gewaltsamen Reformen wenigstens durch<lb/>
ein Princip bestimmt wurde. Er verlangte nämlich von jeder Scene dramati&gt;che<lb/>
Continuität, dialektischen Gang und motivirte Verknüpfung mit dem Vorher¬<lb/>
gehenden und nachgehenden. Diejenigen Scenen, die ein bloßes Bild aus¬<lb/>
drücken und ohne eigentliche Folge verlaufen, hat er entweder weggelassen, oder<lb/>
mit andern zusammengebracht, so daß der Gang der Handlung vorwärtsruck.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0352] ein gemischtes Publicum, wenn man die vorhandenen poetischen Kräfte in An¬ schlag bringt, verständig. Ein weiteres Eingehn wird nicht erforderlich sein. Es ist begreiflich, daß mau bei dem Mangel an neuen Productionen mit besonderer Vorliebe zum Allen zurückgreift. F. Rückerts Lehrgedicht, die Weisheit pes Br ahn alten, ist in vierter Auflage (Leipzig, Hirzel) in sehr geschmackvoller Ausstattung erscdienen. Es erinnert an eine Periode unserer Literatur, die man bereits als eine vergangene betrachten kann, die aber nachhaltige'Wirkungen ausgeübt hat. Unter den Dichtern, die sich zum Orient zurückwandten, um aus der Blütenpracht dieser wunderbaren Welt auch für daS deutsche Gemüth neue Schätze zu erbeuten und den Cultus der Sinnlichkeit poetisch zu verklären, ist Rückert der farbenreichste, und man mag es als ein Ueberquelle» angeborener Naturkraft bezeichnen, wenn 'bei ihm nicht selten die Farbe die Gestalt uno den Gedanken überwuchert. — Karl Si in rock, der schon manche schöne Gabe des Mittelalters für den modernen Geschmack zurecht gemacht hat, gibt in der deutschen Sivnsharfe (Elber- feld, FriderichS) eine sehr interessante Sammlung altkarhvlischer Kirchenlieder und anderer Dichtungen von ähnlichem Inhalt, in der wir nicht allein die echt poetische Stimmung deS Originals, sondern auch die unvergleichliche Ge- schicklichkeit deS Uebersetzers bewundern, der mit gewissenhafter Treue gegen den ursprünglichen Text den reinsten Geschmack verbindet. — Nicolaus Hocker, der in einer früheren Sammlung die poetischen Bearbeitungen der deutschen Sage in einer Art von Continuität vereinigt hat, hat dies Mal alles aufgespeichert was ältere und neuere Dichter aus der deutschen Geschichte ge¬ macht haben. Man freut sich doch über die Mannigfaltigkeit unserer nationalen Bildung, wenn auch der Werth dieser Bearbeitungen sehr ungleich ist. Der Titel der Sammlung: Vom deutschen Geiste, eine Culturgeschichte in Liedern und Sagen deutscher Dichter (Köln, Grapen) ist nicht sehr geschickt. ^ An diese Sammlungen schließen sich die Reliquien der deutschen Dichter, namentlich Goethe und Schiller, deren Werke zu immer größerer Vollständig¬ keit heranwachsen. Der interessanteste von diesen Beiträgen ist die von or. Diezmann in Leipzig herausgegebene Schillersche Bearbeitung Ves Egmont. Zwar hat Goethe darüber in seinen Annalen berichtet, aber w seinen Angaben war doch manches unvollständig. Man kann sich jetzt davon überzeugen, daß Schiller bei seinen gewaltsamen Reformen wenigstens durch ein Princip bestimmt wurde. Er verlangte nämlich von jeder Scene dramati>che Continuität, dialektischen Gang und motivirte Verknüpfung mit dem Vorher¬ gehenden und nachgehenden. Diejenigen Scenen, die ein bloßes Bild aus¬ drücken und ohne eigentliche Folge verlaufen, hat er entweder weggelassen, oder mit andern zusammengebracht, so daß der Gang der Handlung vorwärtsruck.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/352
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/352>, abgerufen am 21.05.2024.