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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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wies und vom nordischen Geschmacke am meisten abwich. Es gilt nämlich:
die gothische Architektur, die lang verpönte und als barbarisch verachtete, in
Italien wieder heimisch zu machen. Der Werkmeister am kölner Dome, Fr.
Schmidt aus Schwaben, wurde soeben als Lehrer der Architektur nach Mai¬
land berufen und ihm eine ausgedehnte praktische Wirksamkeit außerdem zu¬
gesichert. Hr. Schmidt ist ohne Zweifel der tüchtigste und gründlichste Go-
thiker, den Deutschland besitzt; vollständig Meister der Constructionsgesetze,
welche der Architektur des 13. Jahrhunderts zu Grunde liegen, hat er sich
auch in die decorativer Formen des Stiles mit bewunderungswürdiger Sicher¬
heit hineingelebt. Die älteren Architekten, welche sich der Gothik zugewen¬
det haben, müssen sämmtlich mit ihrer entgegengesetzten Schulbildung kämpfen;
Schmidt, schon als Knabe in einer gothischen Bauhütte untergebracht, hat
nichts zu vergessen und zu verlernen, er ist der erste, vielleicht der einzige
naive Goldner der Gegenwart, bei ihm ist nicht blos der Verstand, sondern
auch schon Auge und Hand gothisch gebildet. Aus diesem Grunde kann man
auch keine besondere Empfänglichkeit für antike oder Nenaissanc^formen bei ihm
voraussetzen. Wenn Einseitigkeit von ihm behauptet wird, so ist damit kein
Vorwurf ausgesprochen. Der Kritiker und Geschichtschreiber sollen einen
offenen Sinn für die Berechtigung verschiedener Auffassungsweiscn besitzen;
der schaffende Künstler kann nicht allen Gegensätzen gleichmäßig gerecht werden,
am wenigsten der Architekt, wie nun einmal Antike und Mittelalter einander
gegenüberstehen, für beide in demselben Maße sich begeistern.

Schmidt zieht nach Italien auf einen Eroberungszug. Wird es ihm
gelingen, zunächst die Oberitaliener von der ausschließlichen Schönheit der
Gothik zu überzeugen, so daß sie nicht mehr auf Palladio und Bramante
schwören, sondern vor Peter von Montereau. Meister Gerhard und anderen
bis dahin unbekannten Göttern sich neigen werden?

Der Erfolg seines Strebens hängt zumeist von dem Borhandensein go¬
thischer Traditionen, von der Summe des Lebens und der Kraft ab, welche
die gothische Architektur während ihrer mittelalterlichen Herrschaft in Italien
offenbarte. Die ersteren sind bekanntlich alle verloren gegangen und wurden
durch weit gehende Antipathien ersetzt." In Bezug auf den anderen Punkt
herrschte und herrscht allgemein die Meinung, die alte italienische Gothik ent¬
behre aller inneren Beziehungen zur Nationalität, und habe stets nur ein
äußerliches Scheinleben gefristet. Erst in den letzten Jahren tauchte eine
andere Ansicht auf. Zwei Enthusiasten -- oder Fanatiker, wenn man will
-- für die Kunst des Mittelalters: Didron in Paris und sein gelehriger
Schüler, Alberdingk-Thijm, der Herausgeber der "Dietsche Warande" haben
von ihrem Standpunkte Italien näher betrachtet und als Resultat gewonnen :
"Kome plus AotKique Rouvu, 1'ltalis plus gotKiMv quo ig. I?rsnev."


wies und vom nordischen Geschmacke am meisten abwich. Es gilt nämlich:
die gothische Architektur, die lang verpönte und als barbarisch verachtete, in
Italien wieder heimisch zu machen. Der Werkmeister am kölner Dome, Fr.
Schmidt aus Schwaben, wurde soeben als Lehrer der Architektur nach Mai¬
land berufen und ihm eine ausgedehnte praktische Wirksamkeit außerdem zu¬
gesichert. Hr. Schmidt ist ohne Zweifel der tüchtigste und gründlichste Go-
thiker, den Deutschland besitzt; vollständig Meister der Constructionsgesetze,
welche der Architektur des 13. Jahrhunderts zu Grunde liegen, hat er sich
auch in die decorativer Formen des Stiles mit bewunderungswürdiger Sicher¬
heit hineingelebt. Die älteren Architekten, welche sich der Gothik zugewen¬
det haben, müssen sämmtlich mit ihrer entgegengesetzten Schulbildung kämpfen;
Schmidt, schon als Knabe in einer gothischen Bauhütte untergebracht, hat
nichts zu vergessen und zu verlernen, er ist der erste, vielleicht der einzige
naive Goldner der Gegenwart, bei ihm ist nicht blos der Verstand, sondern
auch schon Auge und Hand gothisch gebildet. Aus diesem Grunde kann man
auch keine besondere Empfänglichkeit für antike oder Nenaissanc^formen bei ihm
voraussetzen. Wenn Einseitigkeit von ihm behauptet wird, so ist damit kein
Vorwurf ausgesprochen. Der Kritiker und Geschichtschreiber sollen einen
offenen Sinn für die Berechtigung verschiedener Auffassungsweiscn besitzen;
der schaffende Künstler kann nicht allen Gegensätzen gleichmäßig gerecht werden,
am wenigsten der Architekt, wie nun einmal Antike und Mittelalter einander
gegenüberstehen, für beide in demselben Maße sich begeistern.

Schmidt zieht nach Italien auf einen Eroberungszug. Wird es ihm
gelingen, zunächst die Oberitaliener von der ausschließlichen Schönheit der
Gothik zu überzeugen, so daß sie nicht mehr auf Palladio und Bramante
schwören, sondern vor Peter von Montereau. Meister Gerhard und anderen
bis dahin unbekannten Göttern sich neigen werden?

Der Erfolg seines Strebens hängt zumeist von dem Borhandensein go¬
thischer Traditionen, von der Summe des Lebens und der Kraft ab, welche
die gothische Architektur während ihrer mittelalterlichen Herrschaft in Italien
offenbarte. Die ersteren sind bekanntlich alle verloren gegangen und wurden
durch weit gehende Antipathien ersetzt.« In Bezug auf den anderen Punkt
herrschte und herrscht allgemein die Meinung, die alte italienische Gothik ent¬
behre aller inneren Beziehungen zur Nationalität, und habe stets nur ein
äußerliches Scheinleben gefristet. Erst in den letzten Jahren tauchte eine
andere Ansicht auf. Zwei Enthusiasten — oder Fanatiker, wenn man will
— für die Kunst des Mittelalters: Didron in Paris und sein gelehriger
Schüler, Alberdingk-Thijm, der Herausgeber der „Dietsche Warande" haben
von ihrem Standpunkte Italien näher betrachtet und als Resultat gewonnen :
„Kome plus AotKique Rouvu, 1'ltalis plus gotKiMv quo ig. I?rsnev."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/130>, abgerufen am 13.05.2024.