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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Mitteln greift, so ist dagegen nichts einzuwenden, aber die tugendhaften Per¬
sonen, die gewissermaßen des Dichters Gewissen versinnlichen, empfinden diese
Schandthat als eine edle Handlung. Die Schauspielerin Quinault, die
aus Liebe zu ihrer Königin die ganze Intrigue geleitet, sagt zum Schluß des
Stücks "voll rührender^ Hoheit"! "Und aus der Sündflut steigt in neuer
Schöne die geläuterte Menschheit und betet wieder zu ihrem versöhnten Vater
im Himmel, dann wirds keinen Narciß mehr geben!" - Die Sündflut scheint
noch nicht vorüber; denn Narciß ist über alle Bühnen Deutschlands ge¬
gangen. --

Die Hypertrophie des Herzens scheint eine Modekrankheit unserer Dichter
zu werden. Wir begegnen ihr in sämmtlichen Romanen Max Waldau's,
aries in den soeben erschienenen dramatischen Werken von Gisela von
Arnim (2. Bd. Bonn, Weber) treffen wir sie wieder an. Das Stück, welches
wir meinen, das Herz der Luis, ist für die Signora Ristori geschrie¬
ben, und müßte, von dieser gespielt, einen sehr großen Effect machen. Lais
ist Neros Tänzerin, sie hat aber ihren Beruf vorläufig aufgeben müssen, weil
bei der Hypertrophie des Herzens ihr jede geistige und physische Anstrengung
den Tod bringen müßte. Ein Sklave, von dem halb verrückten Tyrannen
zum Tode verurtheilt, weil er eine Vase zerbrochen, bittet sie um ihre Ver¬
wendung, und obgleich im Ganzen sehr gleichgiltig und blasirt, ist sie doch
gutmüthig genug, es ihm zu versprechen. Sie weiß auf Nero nicht anders
einzuwirken, als durch ein kunstreich,ausgeführtes Ballet; am Schluß desselben
springt ihr das Herz, und der erschrockene Nero läßt den Sklaven laufen.
Das Stück, von glänzenden Schauspielern aufgeführt, würde ebenso durch¬
greifen, wie Narciß, und es hat dabei den Vorzug einer gewissen Natur-
wcchrheit: Nero und die Sklaven reden wirklich so, wie man in jener Zeit
Hütte reden können. Freilich möchten wir der Bühne zu einer solchen Acqui-
sition doch nicht Glück wünschen. Was die beiden übrigen Stücke betrifft:
Ingeborg von Dänemark und Trost in Thränen (Michel Angelo),
zeigt Fräulein v. Arnim eine merkwürdige Verwandtschaft mit ihrem Vater;
während man Reminiscenzen an den Stil ihrer Mutter Bettine nur sehr selten
begegnet, könnte man ganze Scenen ihrem Vater zuschreiben. Der Mangel
an Form, Folge und Zusammenhang ist ebenso groß als in Arnims Dich¬
tungen; von der markigen Kraft, die dieser in Einzelheiten entwickelt, ist
freilich nur selten die Rede.

Von den übrigen neuen Erscheinungen heben wir eine neue Uebersetzung
von Tegn6rs Konfirmanden, von Christiani hervor (Lüneburg, He¬
rold); ferner das Album lyrischer Originalien aus Deutschland, Oest¬
reich, dem Elsaß und der Schweiz, zum Besten der Hinterlassenen der im
Hauenstein Verunglückten, herausgegeben von Friedrich Oser (Basel,


Mitteln greift, so ist dagegen nichts einzuwenden, aber die tugendhaften Per¬
sonen, die gewissermaßen des Dichters Gewissen versinnlichen, empfinden diese
Schandthat als eine edle Handlung. Die Schauspielerin Quinault, die
aus Liebe zu ihrer Königin die ganze Intrigue geleitet, sagt zum Schluß des
Stücks „voll rührender^ Hoheit"! „Und aus der Sündflut steigt in neuer
Schöne die geläuterte Menschheit und betet wieder zu ihrem versöhnten Vater
im Himmel, dann wirds keinen Narciß mehr geben!" - Die Sündflut scheint
noch nicht vorüber; denn Narciß ist über alle Bühnen Deutschlands ge¬
gangen. —

Die Hypertrophie des Herzens scheint eine Modekrankheit unserer Dichter
zu werden. Wir begegnen ihr in sämmtlichen Romanen Max Waldau's,
aries in den soeben erschienenen dramatischen Werken von Gisela von
Arnim (2. Bd. Bonn, Weber) treffen wir sie wieder an. Das Stück, welches
wir meinen, das Herz der Luis, ist für die Signora Ristori geschrie¬
ben, und müßte, von dieser gespielt, einen sehr großen Effect machen. Lais
ist Neros Tänzerin, sie hat aber ihren Beruf vorläufig aufgeben müssen, weil
bei der Hypertrophie des Herzens ihr jede geistige und physische Anstrengung
den Tod bringen müßte. Ein Sklave, von dem halb verrückten Tyrannen
zum Tode verurtheilt, weil er eine Vase zerbrochen, bittet sie um ihre Ver¬
wendung, und obgleich im Ganzen sehr gleichgiltig und blasirt, ist sie doch
gutmüthig genug, es ihm zu versprechen. Sie weiß auf Nero nicht anders
einzuwirken, als durch ein kunstreich,ausgeführtes Ballet; am Schluß desselben
springt ihr das Herz, und der erschrockene Nero läßt den Sklaven laufen.
Das Stück, von glänzenden Schauspielern aufgeführt, würde ebenso durch¬
greifen, wie Narciß, und es hat dabei den Vorzug einer gewissen Natur-
wcchrheit: Nero und die Sklaven reden wirklich so, wie man in jener Zeit
Hütte reden können. Freilich möchten wir der Bühne zu einer solchen Acqui-
sition doch nicht Glück wünschen. Was die beiden übrigen Stücke betrifft:
Ingeborg von Dänemark und Trost in Thränen (Michel Angelo),
zeigt Fräulein v. Arnim eine merkwürdige Verwandtschaft mit ihrem Vater;
während man Reminiscenzen an den Stil ihrer Mutter Bettine nur sehr selten
begegnet, könnte man ganze Scenen ihrem Vater zuschreiben. Der Mangel
an Form, Folge und Zusammenhang ist ebenso groß als in Arnims Dich¬
tungen; von der markigen Kraft, die dieser in Einzelheiten entwickelt, ist
freilich nur selten die Rede.

Von den übrigen neuen Erscheinungen heben wir eine neue Uebersetzung
von Tegn6rs Konfirmanden, von Christiani hervor (Lüneburg, He¬
rold); ferner das Album lyrischer Originalien aus Deutschland, Oest¬
reich, dem Elsaß und der Schweiz, zum Besten der Hinterlassenen der im
Hauenstein Verunglückten, herausgegeben von Friedrich Oser (Basel,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/160>, abgerufen am 15.05.2024.