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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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dung dessen, was kommen muß, vorauseilen, und doch durch den Eintritt des¬
selben angenehm überrascht werden, weil die Wirklichkeit, wie sie der Dichter
zu schaffen weiß, mit größerer Macht auf unsere Einbildungskrast eindringt,
als unser Vorgefühl. Die Erzählung wird uns um so mehr befriedigen,
wenn wir schon während der Lectüre bei jedem einzelnen Zug die bestimmte
Empfindung haben, daß er wesentlich zur Sache gehört und den Gesammt-
eindruck fördert*), und wenn nach der Lectüre, wo wir das Ganze vor unsrer
Seele zu einem Gemälde sammeln, jeder einzelne Zug als ein nothwendiges
Glied des Gesammtorganismus in unserer Erinnerung gegenwärtig wird, so
daß wir mit Behagen aus dem Gedächtniß heraus das Kunstwerk des Dich¬
ters gewissermaßen als ein Naturproduct nachschaffen können.

Von diesen Gesetzen, die man nur aussprechen darf, um sie sofort als
richtig zu empfinden, ist bei Stifter keines beobachtet. Ein gewisser Zusam¬
menhang der Handlung findet freilich statt, einiges von dem, was die darin
vorkommenden Personen thun und reden, hat Folge; gewisse Umstünde aus
ihrem Leben, die im Anfang unklar sind, werden später aufgehellt: aber
dieser Zusammenhang ist so dürftig und er wird durch so massenhaftes Bei-
werk unterbrochen, daß wir für die Geschichte nicht die geringste Theilnahme
empfinden. Der Grund liegt nicht blos darin, daß jenes Beiwerk sich als
die Hauptsache erweist, sondern hauptsächlich in dem Unvermögen Stifters,
uns bei seinen Charakteren das Gefühl harter Nothwendigkeit einzuflößen, so
daß wir in jedem Fall fest überzeugt sind, sie können nicht anders handeln,
als er sie handeln läßt. Höchst geistvoll und erfinderisch in der Ausmalung
kleiner individueller Züge, ist er nicht im Stande, eine ganze Individualität
in lebendige Gegenwart umzusetzen und das ist freilich die höchste Gabe des
Künstlers, die Gabe, die den echten Künstler von der künstlerischen Natur
unterscheidet.

Der Vorwurf ist ganz ernst gemeint, und soll durch das folgende Lob
nicht entkräftet werden. Wir sind reich an Romanen und Dramen, die zwar
als solche werthlos sind, die aber durch einzelne Schönheiten den Leser ver¬
söhnen oder besser gesagt bestechen, aber wenn es auch dem Dichter gelingt,
in der Form einer Erzählung, die als solche uns kalt läßt, die größte Fülle
tiefer Empfindungen und einen Schatz reichster Lebensweisheit zu entwickeln,
so verdient er doch Tadel, daß er die ungeschickte Form der Erzählung gewählt
hat; er hätte die Pflicht gehabt, für seinen Stoff eine angemessene Gestalt
zu suchen. Es wird dann darauf ankommen, ob das Positive, das er bietet,
so mächtig ist, daß wir seinen Fehler nicht ungeschehn wünschen. Das ist z. B.
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") Deshalb bleibt die Episode der schönen Seele in der Composition des W. Meister immer
ein Fehler, mich wenn uns nachträglich der Zusammenhang mit dem Ganzen auseinander¬
gesetzt wird.

dung dessen, was kommen muß, vorauseilen, und doch durch den Eintritt des¬
selben angenehm überrascht werden, weil die Wirklichkeit, wie sie der Dichter
zu schaffen weiß, mit größerer Macht auf unsere Einbildungskrast eindringt,
als unser Vorgefühl. Die Erzählung wird uns um so mehr befriedigen,
wenn wir schon während der Lectüre bei jedem einzelnen Zug die bestimmte
Empfindung haben, daß er wesentlich zur Sache gehört und den Gesammt-
eindruck fördert*), und wenn nach der Lectüre, wo wir das Ganze vor unsrer
Seele zu einem Gemälde sammeln, jeder einzelne Zug als ein nothwendiges
Glied des Gesammtorganismus in unserer Erinnerung gegenwärtig wird, so
daß wir mit Behagen aus dem Gedächtniß heraus das Kunstwerk des Dich¬
ters gewissermaßen als ein Naturproduct nachschaffen können.

Von diesen Gesetzen, die man nur aussprechen darf, um sie sofort als
richtig zu empfinden, ist bei Stifter keines beobachtet. Ein gewisser Zusam¬
menhang der Handlung findet freilich statt, einiges von dem, was die darin
vorkommenden Personen thun und reden, hat Folge; gewisse Umstünde aus
ihrem Leben, die im Anfang unklar sind, werden später aufgehellt: aber
dieser Zusammenhang ist so dürftig und er wird durch so massenhaftes Bei-
werk unterbrochen, daß wir für die Geschichte nicht die geringste Theilnahme
empfinden. Der Grund liegt nicht blos darin, daß jenes Beiwerk sich als
die Hauptsache erweist, sondern hauptsächlich in dem Unvermögen Stifters,
uns bei seinen Charakteren das Gefühl harter Nothwendigkeit einzuflößen, so
daß wir in jedem Fall fest überzeugt sind, sie können nicht anders handeln,
als er sie handeln läßt. Höchst geistvoll und erfinderisch in der Ausmalung
kleiner individueller Züge, ist er nicht im Stande, eine ganze Individualität
in lebendige Gegenwart umzusetzen und das ist freilich die höchste Gabe des
Künstlers, die Gabe, die den echten Künstler von der künstlerischen Natur
unterscheidet.

Der Vorwurf ist ganz ernst gemeint, und soll durch das folgende Lob
nicht entkräftet werden. Wir sind reich an Romanen und Dramen, die zwar
als solche werthlos sind, die aber durch einzelne Schönheiten den Leser ver¬
söhnen oder besser gesagt bestechen, aber wenn es auch dem Dichter gelingt,
in der Form einer Erzählung, die als solche uns kalt läßt, die größte Fülle
tiefer Empfindungen und einen Schatz reichster Lebensweisheit zu entwickeln,
so verdient er doch Tadel, daß er die ungeschickte Form der Erzählung gewählt
hat; er hätte die Pflicht gehabt, für seinen Stoff eine angemessene Gestalt
zu suchen. Es wird dann darauf ankommen, ob das Positive, das er bietet,
so mächtig ist, daß wir seinen Fehler nicht ungeschehn wünschen. Das ist z. B.
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") Deshalb bleibt die Episode der schönen Seele in der Composition des W. Meister immer
ein Fehler, mich wenn uns nachträglich der Zusammenhang mit dem Ganzen auseinander¬
gesetzt wird.
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[0170] dung dessen, was kommen muß, vorauseilen, und doch durch den Eintritt des¬ selben angenehm überrascht werden, weil die Wirklichkeit, wie sie der Dichter zu schaffen weiß, mit größerer Macht auf unsere Einbildungskrast eindringt, als unser Vorgefühl. Die Erzählung wird uns um so mehr befriedigen, wenn wir schon während der Lectüre bei jedem einzelnen Zug die bestimmte Empfindung haben, daß er wesentlich zur Sache gehört und den Gesammt- eindruck fördert*), und wenn nach der Lectüre, wo wir das Ganze vor unsrer Seele zu einem Gemälde sammeln, jeder einzelne Zug als ein nothwendiges Glied des Gesammtorganismus in unserer Erinnerung gegenwärtig wird, so daß wir mit Behagen aus dem Gedächtniß heraus das Kunstwerk des Dich¬ ters gewissermaßen als ein Naturproduct nachschaffen können. Von diesen Gesetzen, die man nur aussprechen darf, um sie sofort als richtig zu empfinden, ist bei Stifter keines beobachtet. Ein gewisser Zusam¬ menhang der Handlung findet freilich statt, einiges von dem, was die darin vorkommenden Personen thun und reden, hat Folge; gewisse Umstünde aus ihrem Leben, die im Anfang unklar sind, werden später aufgehellt: aber dieser Zusammenhang ist so dürftig und er wird durch so massenhaftes Bei- werk unterbrochen, daß wir für die Geschichte nicht die geringste Theilnahme empfinden. Der Grund liegt nicht blos darin, daß jenes Beiwerk sich als die Hauptsache erweist, sondern hauptsächlich in dem Unvermögen Stifters, uns bei seinen Charakteren das Gefühl harter Nothwendigkeit einzuflößen, so daß wir in jedem Fall fest überzeugt sind, sie können nicht anders handeln, als er sie handeln läßt. Höchst geistvoll und erfinderisch in der Ausmalung kleiner individueller Züge, ist er nicht im Stande, eine ganze Individualität in lebendige Gegenwart umzusetzen und das ist freilich die höchste Gabe des Künstlers, die Gabe, die den echten Künstler von der künstlerischen Natur unterscheidet. Der Vorwurf ist ganz ernst gemeint, und soll durch das folgende Lob nicht entkräftet werden. Wir sind reich an Romanen und Dramen, die zwar als solche werthlos sind, die aber durch einzelne Schönheiten den Leser ver¬ söhnen oder besser gesagt bestechen, aber wenn es auch dem Dichter gelingt, in der Form einer Erzählung, die als solche uns kalt läßt, die größte Fülle tiefer Empfindungen und einen Schatz reichster Lebensweisheit zu entwickeln, so verdient er doch Tadel, daß er die ungeschickte Form der Erzählung gewählt hat; er hätte die Pflicht gehabt, für seinen Stoff eine angemessene Gestalt zu suchen. Es wird dann darauf ankommen, ob das Positive, das er bietet, so mächtig ist, daß wir seinen Fehler nicht ungeschehn wünschen. Das ist z. B. '' , ") Deshalb bleibt die Episode der schönen Seele in der Composition des W. Meister immer ein Fehler, mich wenn uns nachträglich der Zusammenhang mit dem Ganzen auseinander¬ gesetzt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/170>, abgerufen am 14.05.2024.